RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse #99 (2023) – Rezensionen
Ist es wirklich, wie es ist?
Hannes Böhringer: Lücken im Verhau, Berlin 2023, Matthes & Seitz,
rezensiert von Marco Baschera
Hannes Böhringer lehrte viele Jahre als Philosoph an verschiedenen deutschen Universitäten im Fachbereich Kunstphilosophie. Sein letztes Buch »Leben im Dativ« erschien 2021 bei Matthes & Seitz, wo er im März dieses Jahres auch sein neustes Werk »Lücken im Verhau« – eine Sammlung verschiedener Essays – publiziert hat. Der Titel lässt aufhorchen. Ein Verhau, in der Nähe von »verhauen, verprügeln«, bezeichnet ein sperriges Dickicht, das einem einerseits den Weg versperrt, andererseits einen Durchblick auf das dahinter Liegende oder, wie es zu Beginn von »Lücken im Verhau« heißt, »auf das Durcheinander der geordneten Welt« (S. 4), gewährt. Wie aber kann ein Durcheinander geordnet sein? Einige der Essays sind Sokrates gewidmet, der bekanntlich durch die Gassen und auf dem Marktplatz von Athen umhergelaufen sein soll, um sich dem Dickicht der damals gängigen Meinungen zu stellen. In der Darstellung Platons lässt sich der ewig Suchende, fern aller philosophischen Dogmatik, auf Streitgespräche ein, in deren Verlauf er herauszufinden trachtet, welche Meinung die richtige ist im Durcheinander der Behauptungen. Dabei bedient er sich der Kunst der Widerlegung, bei der das »bewusste Nichtwissen stärker ist als das Bescheidwissen« (S. 19).
In den Lücken, die die sokratische Mäeutik im Dickicht der gängigen Behauptungen öffnet, scheint auch ein Glück auf im Umgang mit den letzten Fragen nach der Wahrheit, dem Guten und der Gerechtigkeit. Zu ihr gesellen sich Scherz und Ironie, die unter anderem die Fragen und Antworten des Sokrates auszeichnen. Sie erinnern an die berühmte Pensée Pascals, gemäß welcher derjenige, der wahrhaft philosophiert, über die Philosophie spottet (se moquer de la philosophie). Das Wort »dick« in »Dickicht« ist vom sprachlichen Ursprung her verwandt mit »dicht«. Dickicht ist somit auch »Dichticht«, in welchem das Wort »ich«, sich eigenartig verdoppelnd, ins Stottern gerät. Der philosophische Umgang Böhringers mit dem »Dickicht« der alltäglichen Meinungen ist denn auch der Dichtung verwandt, die in einem gewissen Sinne opak, also nicht unmittelbar verständlich ist. Anders als die begriffliche Rede, die eine möglichst große Klarheit anstrebt, wählt sie einen Umweg, der über die Sprachlichkeit des Denkens führt. Obwohl seine Texte wohl nicht als Dichtung zu verstehen sind, ist Böhringers Denken einer Reflexion auf eine ihm immanente Sprachlichkeit verpflichtet.
Sein sprachliches Denken entfaltet sich nahe den Wörtern. Es vermag, wichtige sachliche und begriffliche Zusammenhänge der Phänomene aufzudecken sowie Durchblicke im Dickicht des Alltags und der alltäglichen Wörter zu verschaffen. Seine knappen, konkreten und lakonisch präzisen Sätze lassen jedoch ein profundes Wissen um philosophische Begriffe, deren Zusammenhänge und historische Entwicklung, erahnen. Bei Böhringer verlieren diese jedoch nie den Kontakt zu den Wörtern, die sie auch sind, sowie zum sprachlichen Grund, dem sie entspringen. Seinen Texten haftet dadurch etwas Leichtfüßiges an. Sie vermögen, aus den Wörtern und ihrem Bezug zu den Sachen ein bewegliches Denken herauszulösen, das nicht Gefahr läuft, dogmatisch zu erstarren. Böhringer gebraucht viele alltägliche Redewendungen, wendet sie aber jeweils spezifisch auf etwas ganz Bestimmtes hin an. So macht es den Eindruck, als würden seine Texte unermüdlich den alltäglichen Satz »es ist, wie es ist« umkreisen und dabei zum kritischen Nachdenken über die unbedachte Tautologie, die ihm zu Grunde liegt, einladen. Dadurch öffnen sie Lücken in den Verhau des Alltags, dessen »Niederungen […] erzählenswert [werden]. Denn dort sind die wahren Schrecken und Wunder verborgen.« (S. 66) Die Philosophie, die nach Aristoteles nach den ersten Gründen und Ursachen sucht, trägt den Hang in sich, sich unabhängig von allem Wissen und ihr fremder Autorität zu entwickeln. Sie richtet sich sozusagen selber auf. Das ist ihr hoher Anspruch, der immer auch Gefahr läuft, in Begriffsgebäuden zu erstarren. Gemäß Böhringer muss sie sich jedoch »im Alltag, am Boden bewähren« (S. 50). Insofern ist ihm Sokrates ein Garant für eine notwendige Unruhe, die jede gewonnene Wahrheit auch wieder in Frage stellt.
Diese Denkrichtung zeigt sich konkret in einem Essay, der den simplen Titel »Der Boden« trägt. In ihm zitiert Böhringer einen Satz von Seneca, gemäß welchem, nahe am soeben zitierten von Aristoteles, Philosophie »ihr Werk (opus) von Grund auf (a solo) errichtet (excitat)« (S. 50) und dabei von keiner anderen Disziplin belehrt werden soll. Das Wort Grund ist zweideutig. Es kann sowohl logische Ursache (causa), wie auch Boden (fundus / solum) bedeuten. Als Boden steht der Grund für ein solides Fundament, jenes fundamentum inconcussum, auf dem auch Descartes seinen Rationalismus aufbaute. Böhringer vermerkt dabei, dass die Philosophen gerne ans Bauen und an Architektur gedacht haben, die jeweils auf einem soliden Boden ruht. Diese räumliche Metaphorik verbindet die Vorstellung eines sicheren Bodens mit jener des logisch-argumentativen Ursprungs (causa). Dadurch soll die Philosophie auf festem Grund und Boden ruhen. In lateinisch excitare steckt der Frequentativ von ciere – etwas bewegen. Es bedeutet etwas erwecken, aus etwas hervorrufen, heraustreiben. Aber wie kann jener solide Grund (solum) Senecas logische Ursache und Boden zugleich sein für die Selbsterweckung eines unerschütterlich gewissen philosophischen Denkens? Welcher inneren Spaltung des festen Bodens soll ein solches Denken entspringen? Basiert diese Vorstellung nicht auch auf einer letztlich unbedachten Tautologie – jene der sprachlichen Homonyme von Grund –, auf welcher die sich selbst benennende Philosophie aufzubauen glaubt? Der Grund droht, zu einem Abgrund und der Boden bodenlos zu werden.
Dies zumindest lehrt, gemäß Böhringer, der »unbeschuhte« und bodenständige Sokrates. »Der Boden ist [für ihn, MB] der Halt der Ironie« (S. 46). Lehren die Stoiker, und mit ihnen Seneca, Härte und Unerschütterlichkeit im Umgang mit dem Unglück, so braucht man dazu starke Schwielen an den Füßen, die sich zu festen Sohlen verhärten können. Das Wort Sohle stammt vom lateinischen solum – Boden – ab. Die beiden Wörter Boden und Sohle scheinen sich zu nahe zu sein. Ihre sprachliche Nähe verweist auf die Doppelbödigkeit des Bodens. Sohlen machen denjenigen, der sie trägt, täuschungsanfällig. Er spürt »den Boden der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar unter« (S. 46) seinen Füßen, die somit ihrer Fähigkeit verlustig gehen, »Fühler nach oben und unten, überallhin« (S. 55) zu sein. Und so bewegt sich in den Augen Böhringers Seneca »in den gefütterten Schuhen einer Dogmatik. […] ihm ist der Boden stoisch versiegelt.« (S. 55)
Innerhalb der Metaphorik des Schuhs wird die Philosophiegeschichte für Böhringer zu einem »Schuhregal«, wo die »getragenen Schuhe« stehen. »Man sieht die Stellen, wo sie gedrückt haben, wo sie gedehnt und ausgebessert, neu besohlt worden sind. […] Die Schuhe sind Lebensformen, in die man hineinschlüpft. Die Philosophie ist nur eine von ihnen.« (S. 50f.) Der Vorteil der Philosophie des Sokrates ist, dass er die Doppelbödigkeit ironisch aufhebt, indem er sie uns »vor Augen führt« (S. 55). Das sokratische Exzitieren ist »die Bescheidenheit des selbstbewussten Nichtwissens« (S. 55). Es hält die Frage, ob es wirklich ist, wie es ist, ständig in der Schwebe.