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RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse #99 (2023) – Rezensionen

 

Éric Bidaud: Psychanalyse et pornographie,
Paris 2016, La Musardine, préface de Laurie Laufer,

rezensiert von Aaron Lahl

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»Sie werden in analytischen Kreisen kein Sprechen über Sexualität mehr hören. Die psychoanalytischen Zeitschriften, wenn Sie sie aufschlagen, sind die keuschesten, die es gibt. Man erzählt keine Bumsgeschichten mehr, man überlässt das den Tageszeitungen.«

– Jacques Lacan (1967)i

 

Der Psychoanalytiker Éric Bidaud konstatiert, dass sich die Psychoanalyse – im Gegensatz zu Philosophie, Linguistik, Filmwissenschaft und Soziologie – bislang wenig mit dem Thema Pornografie befasst habe (S. 26). Nach den klassischen Arbeiten von Robert Stoller und anderen, die Bidaud als »pré-porno« (S. 73) bezeichnet, weil sie noch vor der digitalen Porno-Expansion verfasst wurden, seien in jüngster Zeit aus analytischen Kreisen vor allem alarmierende Stimmen zu vernehmen. Die Ausbreitung von Pornografie, so verkünden einige analytische Autoren, führe zu einer »progressiven Erosion der Fantasietätigkeit« (Vincent Estellon, zit. auf S. 94), zur Brutalisierung der Jugendsexualität, zur Zunahme an Süchten. Bidaud problematisiert diese »Pathologisierung« von Pornokonsum und vergleicht sie mit den Schwierigkeiten vieler Analytiker, mit neuen Formen der Elternschaft oder geschlechtlicher Identität zurecht zu kommen (S. 27). Die Versuche vieler Analytiker, kausale Wirkungen von Pornografie auf ihre Konsumenten zu bestimmen, widersprächen einer analytischen Haltung (S. 164). Bidaud selbst spricht vor dem Hintergrund seiner »klinischen Erfahrung mit Jugendlichen«, aber auch »meiner eigenen Klinik«, womit er die Auseinandersetzung mit einem Gegenstand meint, »welcher eine Epoche definiert, der ich anzugehören versuche« (S. 30f.).ii

 

Bidauds Buch ist in vier Kapitel unterteilt, die die Fülle der Überlegungen nur lose ordnen. Der Text bringt zahlreiche Ideen ein, die dem Rezensenten mal mehr, mal weniger überzeugend, insgesamt aber durchaus anregend erscheinen. Im Folgenden sei nur Einzelnes herausgegriffen.

 

Das erste Kapitel trägt den Titel »Die Psychoanalyse auf die Probe gestellt vom Unanständigen«, der eine reflexive Bewegung analytischen Denkens ankündigt.iii Das wird nur teilweise eingelöst; häufig werden hier, wie im ganzen Buch, unterschiedliche psychoanalytische Theoreme am Gegenstand Pornografie erprobt. Das Kapitel widmet sich dem Wissenstrieb, der sich in der Pornografie materialisiere, und den der Autor über Foucault (Sexualitätsdispositiv), Freud (Schautrieb, Bemächtigungstrieb) und Lacan (Jouissance des Wissens, die Bidaud mit dem Lacan'schen Ding in Verbindung bringt, S. 42) herleitet. Darüber hinaus bemüht sich Bidaud um eine Abgrenzung von Perversion und Pornografie. Die Perversion stelle einen Angriff auf die genitale Beziehung der Eltern dar, wogegen pornografische Präsentationen für gewöhnlich konventionell-ödipal seien: »Papa-Mama-Porno« (Ovidie, zit. auf S. 49f.). Auch seien pervers strukturierte Subjekte in ihren Fantasien beschränkter und weniger spielerisch, was sie für das pornografische Angebot weniger empfänglich mache (S. 51ff.). Dem Rezensenten erscheint diese Gegenüberstellung zu einfach; auch Pornokonsum kann anti-ödipal, starr oder fantasielos sein. Treffender wäre es wohl, neurotische und perverse Modi des Pornokonsums zu differenzieren.iv

 

Das zweite Kapitel widmet sich der Adoleszenz. Bidaud konzentriert sich hier auf das Moment der Verführung und des Rätsels der Sexualität, das in dieser Lebensphase neu bearbeitet werde: »Die Sexuierung in der Pubertät ist der Ort einer Interpretation hinsichtlich des neuen Rätsels, das von diesem Anderen des sexuellen Aktes gestellt wird, mit dem ich ›umgehen‹ muss. Die Pubertät ist in diesem Sinne eine zweite Urverführung.« (S. 109) Dem Konsum von Pornografie komme hierbei eine mehrdeutige Funktion zu, er sei zugleich »Neutralisierung«, »Suspendierung« wie auch »Einrahmung« des Sexes, ferner eine »Bühne« der Selbsterprobung (S. 107f.). Mit Laplanche, auf den Bidaud sich hier bemerkenswerterweise nicht bezieht, könnte man Pornografie auch als mytho-symbolische Übersetzungshilfe begreifen, die die rätselhaften Botschaften aus der Kindheit vor dem Hintergrund der pubertären Reifung des Geschlechtskörpers zu (re)interpretieren und damit auch notwendigerweise zu verdrängen hilft.v – Das Kapitel enthält weiterhin interessante Überlegungen zum adoleszenten Neudurchlauf des Spiegelstadiums (S. 140), zur Dialektik von Gesicht und Genitalien (S. 137ff.) und zur pornotypischen extrakorporalen Ejakulation, die Bidaud mit Freuds Überlegungen zur Gewinnung des Feuers liest: »Das Phantasma: aufs Feuer zu pinkeln, um es zu löschen, entspricht heute dem Phantasma: aufs Feuer des Begehrens zu ejakulieren« (S. 134).

 

Im dritten Kapitel befasst sich der Autor mit dem Verhältnis von Pornografie und Liebe. Pornos seien ein exemplarischer Ausdruck der Auftrennung von Begehren und Liebe, von zärtlicher und sinnlicher Strömung der Libido (S. 142), die Freud als typisch für die männliche Sexualität beschriebvi; lediglich im feministischen Porno werde diese Auftrennung mitunter aufgehoben (S. 146f.). Das typische pornografische Szenario »stellt die Frage der Liebe, indem es sie ausklammert, sie maskiert als ein Element, das den Bedingungen der Erregung und der Lust entgegensteht« (S. 143). Der Autor bemüht sich zugleich, die Möglichkeit eines »neuen Dialogs zwischen Sex und Liebe« (S. 144) in der Pornografie zu erblicken. Allerdings bleibt er dabei verhältnismäßig vage.

 

Das letzte Kapitel ist der »Pornografischen Kultur« gewidmet. Bidaud greift hier unter anderem Foucaults Differenzierung von Utopie und Heterotopie auf. Utopien seien ideale, aber irreale Orte, Heterotopien hingegen reale Gegenräume, an denen die Regeln der Kultur zugleich repräsentiert, bestritten und partiell aufgehoben werden (z.B. Gefängnisse, Friedhöfe oder sakrale Räume).vii Den Ort des Spiegels, der einen irrealen Raum öffnet, zugleich aber mit dem ihm umgebenden realen Raum durch dessen Widerspiegelung in Verbindung bleibe, hatte Foucault als Phänomen an der Grenze von U- und Heterotopie beschrieben.viii In einer ähnlichen Zwischenposition verortet Bidaud auch die pornografische (Spiegel-)Welt (S. 180).ix – Darüber hinaus geht Bidaud auf obszöne Kunst ein – explizit erwähnt wird v.a. der Wiener Aktionismus –, die er von der inzwischen normalisierten Pornografie als Masturbationsvorlage abgrenzt (S. 189ff.). Pornos seien heute weder obszön noch transgressiv.

 

Bidauds Buch ist ein Versuch, das Phänomen des veralltäglichten Pornografiekonsums vor allem von Jugendlichen mit einer Reihe von Theorien aufzuschlüsseln. Zweifellos lässt es dabei einige Leerstellen. Zur Bedeutung des Pornokonsums bei sexuellen Minderheiten, zu Phänomenen des Web 2.0 (Amateurpornografie, Sexting) oder zum häufig ambivalent erlebten Pornokonsum von Frauen/Mädchen hat das Buch recht wenig zu sagen. Auch ist bedauerlich, dass der Autor kein klinisches Material liefert. Dennoch bietet das Buch eine Fülle von interessanten Ideen – was insbesondere der neugierig-analytischen Haltung zu verdanken ist, mit der der Autor sich auf den Gegenstand einlässt.

 

i Zitiert nach Bidaud, S. 26 (Übersetzung dieses und aller folgenden Zitate: AL).

ii Auch hier hätte er sich auf Lacan berufen können: »Wer den Horizont der Subjektivität seiner Epoche nicht zu erreichen vermag, sollte also lieber darauf verzichten, Analytiker zu werden. Denn wie kann er sein Dasein zur Achse so vieler Leben machen, wenn er selbst nichts von der Dialektik versteht, die ihn mit diesen Leben in einer symbolischen Bewegung verbindet.« Lacan, Jacques: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: ders., Schriften I, übers. von K. Laermann, Weinheim, Berlin 1996, Quadriga, S. 71–169, hier S. 168

iii Erinnert sei hier an den gleichsinnigen Titel La Psychanalyse à l'épreuve de l'Islam von Fethi Benslama, der (der Intention des Autors zuwider) ins Deutsche mit Psychoanalyse des Islam übertragen wurde.

iv Pornografiesucht, die es durchaus gibt, wäre in diesem Sinne als Perversion zu verstehen. Vgl. Berner, Wolfgang: Perversion. Gießen 2011, Psychosozial, S. 81ff.

v Vgl. Laplanche, Jean: Mythos und Theorie in der Psychoanalyse, in: Psyche - Z Psychoanal, 2021, 75. Jg., Heft 8, S. 710–736.

vi Viele psychoanalytische Kommentatoren sind auf einen ähnlichen Gedanken gekommen, z.B. Berner, Wolfgang; Koch, Judith: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens heute, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 2009, 22. Jg., Heft 4, S. 340–352; Müller-Pozzi, Heinz: Vom Unvermögen, produktiv zu fantasieren. Gegenbesetzung – Besetzungsabwehr – Externalisierung, in: Merk, Agatha (Hg.): Cybersex – Psychoanalytische Perspektiven, Gießen 2014, Psychosozial, S. 61–76; Lahl, Aaron: Guilty pleasure. Rekonstruktion eines Falles von konflikthaftem Pornografiekonsum, in: psychosozial, 2023, 46. Jg., Heft 3, S. 68–80

vii Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt/M. 2013, Suhrkamp

viii Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Aisthesis – Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, Reclam, S. 34–46, hier S. 39

ix Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Arne Dekker in seiner Analyse von Raumkonstruktionen im Cyber-Sex. Die Raumkonstruktion beim Cybersex könne aber individuell eher utopisch oder heterotopisch ausfallen. Bei utopischen Raumkonstruktionen liege der Akzent auf dem fiktionalen Raum, was mit einem starken Immersionserleben und Irritationen bei technischen Störungen einhergehe. Bei heterotopischen Raumsynthesen sei die realweltliche Anbindung und der materielle Körper stärker betont. Decker, Arne: Online-Sex – Körperliche Subjektivierungsformen in virtuellen Räumen, Bielefeld 2012, transcript, Kap. 3

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