RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse #99 (2023) – Rezensionen
Signorelli. Psychoanalyse & Kulturtheorie,
Heft 1, 2022: Möglichkeiten und Grenzen der Psychoanalyse,
hg. von Gesellschaft für Psychoanalyse und Kulturtheorie e.V.,
Redaktion: Nicolas Hauck, Benjamin Kretz, Nora Kühnert, Yannick Strohmeier,
rezensiert von Karl-Josef Pazzini
Bei einer ersten Nummer einer neuen Zeitschrift bin ich gespannt auf das Editorial: Nacherzählt wird die Geschichte einer Fehlleistung, die der Zeitschrift den Namen gab, für ein psychoanalytisches Projekt eine großartige Programmatik. Herausgegeben wird die neue Zeitschrift von der gemeinnützigen Gesellschaft für Psychoanalyse und Kulturtheorie. Die Abo-Bedingungen finden sich im Internet, eben dort auch ein zugehöriger Blog.
»Als Gesellschaft für Psychoanalyse und Kulturtheorie e.V. haben wir uns zum Ziel gesetzt, Freundinnen und Freunden der Psychoanalyse, Studenten, Nachwuchswissenschaftlern, angehenden Klinikern sowie Interessierten einen Ort zu bieten, um ihre Überlegungen zu psychoanalytischen und kulturtheoretischen Themen in Form von Essays, Glossen und anderen Beiträgen zur Diskussion zu stellen.«i
Psychoanalyse wird nicht zum schmückenden Adjektiv der Kulturtheorie, sondern macht mit ihr ein Spannungsfeld auf. In der vorliegenden Ausgabe deutlich inspiriert von der Kritischen Theorie, deren immer noch oder wieder frischen Einsichten. Vorgesehen sind für jede Ausgabe drei Essays, mehrere Gespräche zu einem Stichwort, dieses Mal zu »Möglichkeiten und Grenzen der Psychoanalyse«, ferner Glossen.
Der erste Essay ist von einem Menschen, der ausweislich der Angaben zu den Beteiligten »lebt und arbeitet« (S. 130), mehr nicht, Ernst Bittermann. Was auch immer Grund für das Pseudonym gewesen sein mag: Es wird eine sehr süße, frische, auch fröhlich kenntnisreiche Auseinandersetzung mit Erich Fromm geboten und ähnlich gesellschaftskritische Impulse weichspülenden Theorien etwa von Hartmut Rosa, Axel Honneth und Bernhard Görlich. Soziologisierung, Vergeistigung und Moralisierung werden von einer ins Detail gehenden Kritik Fromms als Entschärfung der Psychoanalyse ausgemacht, getrieben (allerdings mit einem depotenzierten, interaktionistisch weichgespülten Triebbegriff) von der Sehnsucht, Freuds naturwissenschaftliche Gründe des Denkens auszutreiben, etwa mit dem seit Habermas beliebten Biologismusvorwurf. Der neofreudianische Revisionismus werde schon von Adorno und Marcuse als Ausblendung des Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft kritisiert, dabei verloren gehe das Erkenntnispotenzial für gegenwärtige Zurichtungs- und Unterdrückungsmechanismen. Bittermann sieht zwar den soziologischen Zug auch seiner Kritik, kann aber zeigen, dass der reale Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft, so wie er in der theoretischen Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Psychoanalyse bei Freud persistiert, der spannungsreichen Genese des Subjekts zwischen Individuum und Gesellschaft besser Geltung verschaffen kann. Ein Hinweis auf die sprachliche Verfasstheit des Triebs, eines fait social, wie schon Freud es betont, hätte dies noch deutlicher gemacht. Bei der Lektüre leuchtet ein, dass die kritisierte Art der Soziologisierung den Effekt hat, dem Individuum allein und als einzigem, nicht als politischem die Bürde der Veränderung aufzudrücken und das Beschädigende, Gewaltsame, Traumatische als fehlende Anpassungsleistung anzugehen. Bittermann erinnert an Adornos Ermunterung, weiter zu forschen: »Keine Forschung reicht bis heute in die Höllen hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen« (Minima Moralia). Im aktuellen Revival frommscher Arbeitspsychologie entdeckt Bittermann einen Wiederbelebungsversuch eines rheinischen, humanistischen Kapitalismus.
Henning Lampe schließt mit seiner genauen Betrachtung des laplanchen Triebbegriffs hier an. Auch er lässt sich in seiner Lektüre von Adorno ermuntern. Im Gegensatz zu Fromm behalte Laplanche den freudschen Triebbegriff bei. Lampe wundert sich, dass er »sich trotzdem großer Akzeptanz erfreut und weitgehend affirmativ rezipiert wird« (S. 37). Als einen Grund macht er Laplanches Apotheose des Individuums aus. Lampe hebt heraus, dass Laplanche bei Freud Unausgearbeitetes entdeckt (S. 44). Dieses sei aber nicht alles theoretisch zu glätten. Der Rezensent sieht hier Verbindungen zum Beitrag von Bittermann: Man könnte in der Psychoanalyse Freuds eine lange nicht erledigte Produktivität einer unaufgelösten Harmonisierung zwischen Naturwissenschaften, Hermeneutiken und Künsten sehen. – Der Trieb, so kann Lampe detailreich nachbuchstabieren (S. 38ff.), werde in seiner von Freud so angelegten antinomischen Paradoxalität von Laplanche ins Exogene entsorgt. Dabei gerate das Körperliche gegenüber dem Psychischen ins Abseits. – Aufmerksam geworden durch die Kritik an Laplanche fragt sich der Rezensent bei den Rückversicherungen Lampes an Freud, ob nicht bei Freud ebenso harmonische Vorstellungen einer Ataraxia durch Neutralisierung von Reizen immer wieder durchschimmert (S. 50).
Pierre-Carl Link trägt »Überlegungen im Anschluss an Foucault« bei: Biografische Stückchen werden genutzt, um die historiografische Entwicklung der Psychologie zu belegen, die, so Link, Foucault am Herzen lag. Die Belege haben psychologisierenden Charakter, was wohl auch daran liegt, dass sie zum großen Teil von Eribon übernommen wurden. Mehrfach angedeutet und erwähnt wird Foucaults Homosexualität und wir erfahren über Eribon, dass Foucault sie »sehr schlecht ausgelebt und verarbeitet« habe (S. 62). Das bleibt Kolportage und wird nicht in eine Argumentation übersetzt. Auch »Wahnsinn und Gesellschaft« sei sehr eng mit Foucaults persönlicher Geschichte verknüpft (S. 63).
Es folgen in der Rubrik »Stichwort« vier Gespräche mit Dominik Finkelde, Martin Altmeyer, Udo Rauchfleisch und Tilmann Moser. Gefragt ist nach den Möglichkeiten und Grenzen der Psychoanalyse. Diese werden in den Gesprächen gestreift. Sie können wie kurze, gute Einführungen in das jeweilige Denken genutzt werden. Etwas schade finde ich, dass die Gesprächspartner von Signorelli fast nur Stichwortgeber sind, nicht aber die Befragten und sich selbst an die genannten Grenzen führen.
Die Glosse von Stefan Hain erinnert an einen gemeinsamen Anlass von Marxismus und Psychoanalyse, die Krise der bürgerlichen Gesellschaft, und weist auf die Wurzeln der International Psychoanalytic University hin: »Die zivilisierte Barbarei der autoritären und chaotischen Gesellschaft hat nicht wenige Studierende und deren Anhänger (zugegeben: es sind weit weniger geworden) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer scheinbaren Lösung zugetrieben: Psychoanalyse.« (S. 117). Hain macht auf die theoretischen, die ungehobenen Möglichkeiten des nicht nur theoretischen Zusammenhangs von Marxismus und Psychoanalyse mit Rekurs auf Trotzki, Horkheimer und Adorno aufmerksam. Gemeinsam sei Kritischer Theorie, Psychoanalyse und Marxismus deren Unmöglichkeit. Ich würde übersetzen: Diese Theorien lassen sich nicht managen. Damit käme ich dem Vorschlag von Hain nahe: »nur wenn wir den Tod anerkennen [eben das unmöglich Beherrschbare; KJP], um nicht von depressiver Angst in Geiselhaft genommen oder der psychotischen überwältigt zu werden – nur dann können wir fragen, wie wir leben wollen.« – Das ist allerdings nicht nur eine Sache individueller Entscheidung, sondern auch unbewusst, nur in Übertragung, also kollektiv anzugehen.
Benedikt Salfeld führt die Produktivität des namengebenden Lapsus, Signorelli, vor und verknüpft damit eine Kritik an der Freudrezeption: »War man in der, im besten Sinne, naiven Frühphase der Psychoanalyse noch an der Anwendung der von Freud formulierten Theorien selbst interessiert und erprobte unbekümmert an eigenen Beispielen, wird mit der Zeit eine gewisse Tendenz zur auslaugenden Selbstbezüglichkeit in der Rezeption erkennbar: Die Theorien Freuds werden auf ihn und sein Werk appliziert.« (S. 123) Die einen »stürzen sich« aufs Semantische, die anderen aufs Assoziationsanstiftende, symbolistisch bei Jung, und bei Lacan bezogen auf das Sprachmaterial zu immer neuen Übersetzungen und Allusionen führend (S. 124). Die Glosse endet mit einer weiteren Rehabilitierung des »Triebs« als widersprüchlichem, paradoxalem, Theorie und Praxis vorantreibendem Moment wie schon in den Essays von Bittermann und Lampe. Der Schluss wird vielleicht zum Motto der weiteren Arbeit in der Zeitschrift: »Wer erinnert, leidet, weiß aber immerhin um den Grund seines Leidens in der Gegenwart oder aber er wird der Schönheit des Verlorenen gewahr. Die Erforschung von Fehleistungen, wie der Signorelli eine war, könnte letztlich der Impuls zum Erinnern von etwas Fehlendem betrachtet werden. Ob der auf etwas Fehlendes verweisende Fehler auf abgewehrtes Leiden oder den Verlust von etwas Wünschenswerten verweist, muss die Analyse erweisen.« (S. 128f.) Fehlleistungen können allerdings auch ob der Fülle entstehen, für die es im Moment noch keine methodisch abgesicherten Artikulationsmöglichkeit gibt.