Butler, Judith: Sinn und Sinnlichkeit des Subjekts. Übers. aus dem amerik. Englisch: Kleinbeck, Johannes; Precht, Oliver; Ruf, Kianush; Schurian, Hannah, Wien, Berlin 2021, Turia & Kant,
rezensiert von Simon Scharf,
in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse (2022)[1]
Auch wenn die spätmoderne Gesellschaft ein regelrecht obsessives Verhältnis zum Körper besitzt, erreichen die Diskurse zur Bedeutung desselben nur selten philosophische Tiefe. Judith Butlers Essaysammlung Sinn und Sinnlichkeit des Subjekts aber, die Beiträge der Jahre 1993 bis 2012 versammelt, leuchtet auf vielfältige Weise und im Dialog mit zentralen Positionen der Philosophiegeschichte die Möglichkeiten einer Ethik des sinnlichen Subjekts aus.
Ausgehend von der Ursprungsbedeutung des »Subjekts« als eines dem Diskurs unterworfenen begreift sie den Einzelnen – mit Foucault gesprochen – als diskursiv produziert: Normen, Konventionen und institutionelle Formen üben dabei eine derart immense Kraft aus, dass Butler von einer »iterativen Logik« (S. 12) spricht, die sich über das Leben der Individuen hinausgehend immer weiter fortsetzt und Gesellschaft auf diese Weise machtvoll prägt. Entscheidend ist Butlers Verständnis des Konflikthaften und Dialektischen: Sie will keinesfalls einer Vorstellung des passiven und fremdbestimmten Subjekts das Wort reden, sondern sieht eher ein komplex aufgezogenes Kraftfeld der Widersprüche und Kämpfe im Ringen um die eigene Position.
In diesem Sinne definiert Butler das Ethische im Subjekt als ein Bestreben, die Spannung zwischen dem eigenen Geformt-Werden durch die Gesellschaft und eigenen Handlungsspielräumen der Formung zu verstehen. Das eigene Leben ist damit der fortwährende Versuch, sich einzubinden und zugleich Kräfte und Beschränkungen durch Prägungen und Normierungen zu verstehen. Auf diesem Weg, die »kreuzenden Bedingungen der Formierung« (S. 27) zu erkennen, wird dann ein komplexes Bündel der Beziehungen erkennbar, ein Geflecht, das die eigenen Interpretationen und Positionen herausfordert und immer wieder in Bewegung versetzt. Die Sprache selbst wird in diesem Prozess zum Werkzeug, das einer ähnlichen Logik folgt: Sie ist eine bewegliche Sprache, die zwischen verschiedenen Polen der Formung oszilliert und immer das Scheitern miteinbeziehen muss. Über die Gesellschaft, das Ich oder den eigenen Körper zu sprechen, meint damit auch, Irrwege, Fehlinterpretationen und Aporien des sprachlichen Zugangs als konstruktiv und hilfreich aufzufassen, um neu anzusetzen – die Suche nach Gewissheit intensiviert so den Zweifel in seiner produktiven Kraft.
Mit diesen Vorarbeiten wendet sich Butler im Folgenden ihrem hier zentralen Fluchtpunkt zu: dem Körper. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei ihre faszinierende Rückkopplung des Körpers an das Geistige, das Subjektkonstituierende, mit der sie sämtliche Dualismen zugunsten einer performativen Durchdringung beider Ebenen überwindet: Es ist der Körper, »der die Seele beseelt« (S. 65); umgekehrt erweist sich das Bewusstsein als diejenige Form, die »der Körper annimmt, wenn er ideell wird« (S. 73). Auf diese Weise wird die titelgebende Koppelung von »Sinn« und »Sinnlichkeit« überaus deutlich – im Rekurs auf den Körper weitet sich der Blick auf Subjektivität und Identität des Einzelnen, der über das Körperliche Erkenntnisse gewinnt.
Spannend und anregend sind im Anschluss daran Butlers Lesarten prominenter philosophischer Positionen zu Formen der Körperlichkeit, die gleichsam als wichtige Anwendungen zu Bestandteilen ihrer Konzeption werden: So entwirft sie mit Maurice Merleau-Ponty eine Idee der Berührung, die Ausgangspunkt von Empfindung, Gefühl und Denken ist, nahezu »beseelendes Prinzip des Fühlens und Erkennens« (S. 64). Das Berühren des Anderen und das Berührt-Werden des Ich sind gleichermaßen Möglichkeiten, das eigene Denken zu befruchten und eigene Formen der Handlungsmacht definieren zu können. Im Begehren zeigen sich darüber hinaus Umrisse einer sozialen Ethik: In Fortführung von zentralen Ideen Spinozas meint Begehren so immer Externalisierung und Ausweitung des Ich auf den Anderen. Die Sehnsucht, sich auf den anderen Körper zu beziehen und sich diesen »einzuverleiben«, verwickelt das Ich in eine Art »Gesellschaftlichkeit« des eigenen Begehrens und bewirkt ein (bei Butler generell signifikantes) chiastisches Verhältnis von Individuum und Kollektiv. Ausgehend vom Begehren ist schließlich die Liebe selbst Teil einer umfassenden Idee des sinnlichen und mit Sinn aufgeladenen Körpers: In der Ausrichtung auf den Anderen will sich der Einzelne »desorientieren« und selbst überschreiten; sich selbst weiterzuentwickeln im Rahmen der Liebe bedeutet dann (im Hegel’schen Sinne) die Dialektik zwischen dem »Zorn auf die eigene Individualität« (S. 144) und dem Ringen um Individualität auszugestalten und in der Liebesbeziehung auf besondere Art und Weise zu leben. Weitergeführt wird daraus – so zeigt Butler sehr instruktiv auf der Grundlage der Positionen von Merleau-Ponty und Luce Irigaray – eine Art »ethische Beziehung zwischen den Geschlechtern« (S. 210), die alle Hierarchie, aber auch alle Formen der Wechselseitigkeit und Anpassung überwindet und zu einer Anerkennung des Widersprüchlichen und der radikalen Frage nach dem DU der Beziehung kommt:
Ich bin nicht derselbe wie der ANDERE. Ich kann den ANDEREN nicht am Modell meiner selbst begreifen. Der ANDERE ist wesentlich jenseits von mir und ermöglicht mich in dieser Hinsicht, indem er mich begrenzt. Dieser ANDERE, der nicht ich ist, bestimmt mich außerdem wesentlich dadurch, dass er genau das darstellt, was ich nicht an mich und das, was mir schon bekannt ist, angleichen kann. (S. 212)
Auch wenn Butler im Rahmen vorheriger Schriften die Basis ihrer philosophischen Konzeption bereits gelegt hat und in Sinn und Sinnlichkeit des Subjekts an der einen oder anderen Stelle re-vitalisiert, so besticht der übersichtliche Essayband doch durch den roten Faden einer auch interdisziplinär unbedingt bedenkenswerten »Ethik der Körperlichkeit«, wenngleich die einzelnen Texte immer wieder auch neue Kontexte, Detailbeobachtungen und Lesarten offenlegen, die Wertvolles zutage fördern. Mit Butlers deutlichem Rekurs auf Phänomenologie und feministische Theorie ist sie in jedem Fall – wenn dies nicht bereits vorher in besonderem Maße der Fall war – überaus anschlussfähig für psychoanalytische Diskussionen.