Hamacher, Werner: Mit ohne Mit. Zürich 2021, Diaphanes (transpositionen),
rezensiert von Martin A. Hainz,
in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse (2022)[1]
Die Differenz ist bekannt: Dekonstruktivismus ist als Verfahrensweise, die aus der Dekonstruktion erlernte Techniken anwendet, im Moment dieser Voraussetzungen schon nicht mehr Dekonstruktion. Selbst der Satz, die Differenz zwischen beiden sei bekannt, ist insofern unhaltbar, Dekonstruktion scheint sich vielmehr von sich selbst zu unterscheiden. Das ähnelt der Struktur der Psychoanalyse, die nicht behauptet, sie wisse, was sie tue – sie ist vielmehr die Achtsamkeit für Dysfunktionen des Bezeichnens und Erklärens dessen, was der Mensch sei, denke, wolle oder erleide und erlitten habe.
Hamacher arbeitet in dieser Region, wenn es eine ist. Er arbeitet an der »inexpliziten Philosophie« (S. 7), die aber entfaltet Technik würde, womit es um ein Entfalten und etwas, das noch immer zu entfalten sei, geht: an der Philosophie, aber mit ihr, da sie das unentfaltete (oder schlicht eingefaltete, auffaltbar scheinende) Entfalten ist.
Auch das entspricht der Idee der Psychoanalyse: ums Unerhörte geht es, um das, was aufgrund einer Ungenauigkeit unvernommen blieb und nun in diesem Sinne unerhört das Unerhörte des Nicht-Hörens aufdeckt. Rezensieren lässt sich das kaum, das ist die sofortige Verlegenheit auch bei Hamachers Werk. Man kann nur einige seiner Manöver im Text zeigen, in seinem und in dem Text, welcher der jeweils gelesene wäre. Hamacher schreibt sich aus Traditionen der Hellhörigkeit her, aber er schreibt auch gegen ein Weghören an.
Hamacher beobachtet und beschreibt, was er tut, indem er diese Rekonstruktionen von Unbewusstem – unbewusst Gebliebenem oder Gewordenem – vornimmt. Aber wäre dies eine Technik, wiederholte sie die Schwerhörigkeit. Insofern geschieht eine Analyse dessen, was vorgenommen wird, damit diese Analyse der Analyse möglich ist. Und zugleich ist schon eine erste Analyse eines Sachverhalts doch nie nur die Einladung, es besser zu machen: Das beobachtete Philosophieren ad rem ist ebenso ein Philosophieren, bloß eines, das sich noch weniger als jenes zweite (Meta-)Philosophieren versteht, das auch noch nicht hinreichend versteht, was zu verstehen sein soll …
Vielleicht geht es also um eine »Tauto-Topologie« (S. 13), vielleicht aber auch um deren Gegenteil. Es scheint dabei eine Glaubenssache impliziert zu sein, an der das Geglaubte das (wertfrei) indiskutable Problem ist. Man müsste es diskutabel machen, indem man den Glauben kennt und weiß, inwiefern er das verändert, was als Subjekt womöglich nur sein Objekt denke. Aber das zu glauben – dass man hinter sein Philosophieren denken kann –, bedeutet, selbst die »faktische[n] Inexistenz Gottes« als »Spur von Göttlichkeit zu entdecken« (S. 19), ein Evangelium oder Dysangelium, wenn Philosophie darauf so oder anders basiert.
Gott als Garant einer besten immerhin aller möglichen Welten ist dabei das Problem. Selbst das würde implizieren, dass jener Gott das Leid hörte und abwöge. Mitleidend. Vielleicht müsste man das Mit (mit‑)denken, den Umstand, dass Denken immer diese Spur hat, von sich oder etwas, das seinen Logiken nicht gehorcht. Nancy, auf den Hamacher sich oft bezieht, schreibt von »Beziehung […] im Zentrum des Seins«[2], dass also das, was ist, es ist, indem es nicht vollständig ist. Aber damit ist das, was seine Alterität ist, vor allem seine, weniger dagegen ist diese Alterität wirklich Alterität.
»Selbst-Komplementierung des Mitseins« (S. 30) nennt dies Hamacher. Das Mit »muss leer und kann keine Matrix sein.« (S. 44)
Mit Bataille formuliert Hamacher, es gehe also um ein »Mit des Ohne-Mit« (S. 47), vielleicht um ein Phänomen der Schrift, des Sprechens und Schreibens, das zwischen dem, was es sei, und dem, womit es sei, changiert: »seiner Entsprechung ausgesetzt« (S. 49). Schrift ist »Rückschrift« oder »Entschreibung (des-écriture)«, so Hamacher, sobald schreibend »gedacht wird, wird auch entdacht.« (S. 49) Immer wieder geht es ums Fixieren dessen, was eine Schrift sei. Nie aber gibt es diesen Rückzugsort, wo das Sein und die Signifikanten zur Ruhe kommen, wo das Insignifikante nicht stört, das – siehe oben – das Unerhörte der Fixierung ist. Man weiß, dass das Übrige, das man als solches erledigt zu haben vermeint, wiederkehrt, sich nicht gefallen lässt, als das Übrige genannt und nicht genannt zu sein. Es verlangt Beziehungsarbeit, diese Beziehungsarbeit, die eine Überforderung ist: »Kalkül ohne Ende« (S. 111).
»Licht – oder Ich – wäre das Geschehen des Unterscheidens, das ein von ihm Unterschiedenes entlässt.« (S. 123) Statt einer Beherrschung geht es immer wieder um eine Entherrschung, die verstünde, aber eben nicht in jener Art des Begreifens, die be- und zugreift. Und diese misslingt, aber auch das nur vielleicht. Vielleicht glückt eine »›simili-‹ und ›semi-transzendental‹« (S. 129) verfahrende oder sich aktualisierende Art des Denkens …? Die Formulierung, es bestehe im Denken ein »Perverformativ« (S. 203), findet sich bei Hamacher schon in früheren Texten.
So arbeitet Hamacher am Zukünftigen, an dem, was zu sagen bleibt. Zukunft ist »die nackteste Zukunft« (S. 238), auf sie richtet sich dieses Buch, das in diesem Sinne unbedingt ist. Da ist etwas, das jetzt nichts ist, aber das »Nichts, und dieses zuerst, ist messianisch.« (S. 241) – Und das Nichts kommt, als wäre es wenig, doch ermöglicht es hier alles, in immer neuen Auslöschungen von Voraussetzungen. »Zur Methode: Vergiss das Keine nicht.« (S. 243)
So beginnt nichts, aber so endet auch nichts, das Gespräch, zu dem das Buch anrät, ist und bleibt offen. Selbst da, wo der Tod auftritt, ist die Rede von der »endlosen Mortalisierung« (S. 354), die offenbar paradox einer Unsterblichkeit das Wort redet, die sich Tag für Tag nie ganz beweist, die aber auch nicht widerlegt wird.[3] Das Motiv der Nekyia. Ganz an den Anfang führt nichts, so »referentiell« (S. 362) ist nichts – aber vielleicht ist das auch nur der Standpunkt derer, die das Letzte kennen, »das […] Verschließen des Sinns«[4] zur Präsenz, wo Hamacher der Beweglichkeit das Wort redet. Sie wird erlitten, sie ist Chance, »Ferenz« und »Feranz« (S. 362) …
Hamachers Buch versucht sich verstörend an der »Relation zur Irrelation« (S. 50). Diese Verstörung ist kohärent und deutet – noch verstörender – an, dass sie weder hinreichend verstörend noch ganz kohärent sein muss. Ein Buch wie ein Riss, zur Lektüre empfohlen, zur nie (wie) erstmaligen und nie letztmaligen. Das ist kein Urteil, das ist mehr und weniger als das: Hamachers wegen.
[1] https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/
[2] Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein. Übers.: Müller-Schöll, U., Berlin 2004, diaphanes, S. 124
[3]) Werner Hamachers Andere Schmerzen, 2022 bei diaphanes erschienen, fokussiert hierauf.
[4]) Nancy, Jean-Luc: Entstehung zur Präsenz. Übers.: Vogel, O. In: Hart Nibbrig, Christiaan L. (Hg.). Was heißt »Darstellen«?, Frankfurt a. M. 1994, Suhrkamp, S. 102–106, hier S. 104