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Wilm, Heidi; Unterthurner, Gerhard; Storck, Timo; Kadi, Ulrike; Boelderl, Artur R. (Hg.), Körperglossar, Wien, 2021, Turia + Kant,

rezensiert von Walter Seitter,

in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse (2022)[1]

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Unter einem Glossar versteht man eine Liste von Worterklärungen (etwa etymologischen oder semantischen), die häufig ans Ende eines Buchs gesetzt wird, sodass das Glossar zu anderen Registern und Verzeichnissen hinzukommt.

         Das vorliegende Buch jedoch tituliert sich insgesamt als Glossar, scheint also die für wissenschaftliche Schriften übliche Textform der Abhandlung von sich zu weisen. Diese entspricht dem abwägenden und flexiblen Duktus eines Autors, der seine Gedanken darstellen, mitteilen, plausibel machen will. Hingegen wirkt die Textform des Glossars irgendwie vorgefertigt und steif – sei es, dass sie ans arithmetische Aufzählen oder an die Geometrie der Liste erinnert.

         Das Inhaltsverzeichnis des Buches steigert diesen Eindruck, werden doch die einzelnen Glossen (es sind fast vierzig) uniform so benannt, dass dem einen und selben Wort »Körper« (im Plural) adjektivische Weiterbestimmungen zugesetzt werden, genauer gesagt vorgesetzt werden (weil die deutsche Sprache diese Wortstellung erfordert).

         Aus der Simplizität dieses Schemas muss man den Herausgeberinnen und Herausgebern nicht unbedingt einen Vorwurf machen: es ist die Simplizität, Wohlbekanntheit und vielleicht auch Unvermeidlichkeit einer der aristotelischen Ontologie-Dimensionen, nämlich der Polarität zwischen dem Wesen und den Akzidenzien.

         Indessen könnte man die grafische Priorität der (vielen) Eigenschaften vor den oftmals wiederholten Körpern doch auch in die Richtung lesen, dass die unterschiedlichen und divergierenden, ja turbulierenden Akzidenzien, also Zustöße, das Gleiche der Körper doch zu zerfransen ja zu zersetzen drohen. Dies umso mehr als viele der Akzidenzien mit aktiven oder passiven Partizipien ausgedrückt werden – womit Tätigkeiten und Leiden, Dominanzen und Schicksale sich in den Vordergrund drängen. (Selbst bei Aristoteles taucht so etwas wie ein heterodoxer Akzidenzialismus auf).

         Über die vielen Akzidenzialitäten, die den Menschenkörpern zugeschrieben werden, löst sich deren begriffliche Bestimmtheit tatsächlich tendenziell auf.

         Eine nähere Besichtigung der vielen Beiträge bestätigt eine solche Vermutung, und im übrigen ist die normale Textform der wissenschaftlichen Darstellung, die Abhandlung, keineswegs aus dem Glossar verbannt – jeder der Beiträge ist eine solche.

         Es ist aber auch zum »Hauptwort« des Körper-Glossars gleich etwas zu sagen. Im Vorwort werden »alle Körper« als Thema oder Sujet des Buches angekündigt – wobei die Ankündigung sofort wieder halb zurückgenommen wird. Es wird aber so gut wie ununterbrochen vorausgesetzt, dass nur von Menschenkörpern die Rede ist bzw. sein wird – was gleichzeitig aber gar nicht deutlich gesagt wird, zumal die Angabe der Spezies »Mensch« im ganzen Buch ausfällt, höchstens wird sie mit dem deutschen Sonderwort »Leib« angedeutet.

         Es findet eine paradoxe Überkreuzung statt zwischen einem thematischen Anthropozentrismus, der nur Menschliches oder Menschenhaftes zulässt und abhandelt, der aber diese Einschränkung gar nicht offenlegt – weil anscheinend das Vokabular für die Offenlegung nicht zur Verfügung steht oder weil irgendein Verbot die Offenlegung verhindert.

         Und das Ganze unter der formellen selbstgewählten Titulatur »der Körper«, die sogar »alle« Thema sein sollen.

         Alle Körper – die reichen immerhin von den Himmelskörpern (zum Beispiel Schneeflocken) bis zu den vielen Sachen, die man in den Geschäften kaufen kann (allerdings gegessen und getrunken transsubstanziieren sie sich in – Menschen (plus Abfall)).

         Bei ungefährer Durchsicht stößt man im Körper-Glossar nur auf zwei Körper-Sorten, die man nicht direkt den Menschenkörpern zuschlagen kann: Tierkörper, Schriftkörper. Beide Körpersorten sind allerdings den Menschenkörpern nicht ganz fremd. Die Tierkörper umfassen generisch die Menschenkörper – und zwar nicht etwa nur rein logisch: das Animalische ist aus den Menschenkörpern nicht auszutreiben (auch wenn es versucht wird); und die Schriftkörper sind menschliche Artefakte (wie zum Beispiel das besprochene Buch), die die Artistik in die Menschennatur eingravieren. Solche Übergangsphänomene klingen in den meisten der zugeschriebenen Akzidenzien an.

         Und doch – wie kommt es, dass in so einem »intellektuellen« Buch eine grundsätzliche Begriffsunklarheit zum Zug kommt? Die Herausgeber sind Philosophen und Psychoanalytiker – bei diesen gehört sie vielleicht zum Selbstverständnis, denn sie behalten ja auch die Seele (mit wenig mehr Berechtigung) allein den Menschen vor. Aber die Körper – noch dazu »alle«?

         Es gibt sehr wohl eine positionale Anthropozentrik, die man behaupten kann oder vielmehr muss, denn sowohl Psychoanalytiker wie auch Philosophen und alle anderen Spezialisten und Laien sind Menschen und nichts besseres und können nur von dieser spezifischen Position aus schreiben, reden, tun und leiden. Aber thematischer Anthropozentrismus ist nur gerechtfertigt, wenn er sich deklariert und sein Schild vor die Tür hängt.

         Das tun die Philosophen dann, wenn sie von menschlichen Dingen reden und diese Themenwahl nicht mit »Meta«-Begriffen wie »Geist« oder »Sein« vernebeln.

         Den Schritt zur Klarstellung der Menschenthematisierung haben im 20. Jahrhundert nach Christus die Philosophen getan, die sich als philosophische Anthropologen bezeichnet haben – und sie werden im Körper-Glossar immerhin gelegentlich marginal erwähnt (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen).

         Indem sie die Menschen ausdrücklich von näheren oder ferneren natürlichen Verwandten wie den Tieren oder Pflanzen absetzen, konstellieren sie sie auch mit weiter entfernten Wesen, mit denen sie allerdings auch höchst nahe und höchst notwendig koexistieren – etwa der Erde, dem Wasser, der Luft und so weiter und damit die kosmische (oder und chaotische) Dimension des Universums anpeilen, welche jedweden Anthropozentrismus in die Schranken weist.

         Die Integration der Menschenspezialitäten in größere Parameter geschieht in vielen Beiträgen des Körper-Glossars allerdings sehr wohl – wenngleich auf verstecktere, man könnte auch sagen: auf raffiniertere, eben auf »französische« Weise. Denn die hier erwählten und installierten Autoritäten sind Jacques Lacan (dessen Fehlbezeichnung des sogenannten Borromäischen Knotens wiederum mit weiteren Fehldeutungen überdeckt wird), Maurice Merleau-Ponty (der Gewährsmann für den »Leib«) und Michel Foucault (der hartnäckige Beschreiber), auf die auch die erwähnte Begriffsakrobatik zurückgeht, die im Glücksfall nicht nur Verwirrung stiftet – sondern auch Anstoß zum Staunen, Sehen und Formulieren.

         Von den Abhandlungen dieses Buchs greife ich nur ein paar heraus, die mich rein »persönlich« interessieren, beinahe könnte ich auch sagen: rein körperlich.

         Zunächst den Beitrag »Televisierte Körper« von Knut Ebeling, der von einer menschlichen Eigenheit namens »Starkult« berichtet, welche Benennung die Verehrung bestimmter sogenannter Prominenter begrifflich mit der Verehrung der Himmelskörper überblendet. Beide quasi-religiöse Beziehungen setzen so etwas wie Fern-Wahrnehmung voraus – und Ebeling nennt denn auch seinen Beitrag dementsprechend.

         Im Jahre 1946 fertigte der Ex-Propagandafilmer François Campaux ein zwanzigminütiges Künstlerporträt des Malers Henri Matisse an, das dann 1952 von Merleau-Ponty und 1964 von Lacan gesehen und kommentiert worden ist. Der Zeitlupenfilm zeigt die tanzende Gestik des malenden Körpers, die nicht nur vom Bewusstsein des Malers geführt, sondern »ferngesteuert« sei.

         Und dann schildert Ebeling zwei Fernsehaufzeichnungen, die von Lacan, dem sprechenden, in den Jahren 1972 und 1974 gemacht worden sind. Beide sind von störenden Vorfällen heimgesucht worden, die Lacans Redekunst auch körperlich heraus- und hinaufgefordert haben, womit überdeutlich geworden ist, dass Reden in jedem Fall als eine körperliche Tätigkeit gelten muss – was der manieristische Lacan auch noch übertreibend auf die Spitze getrieben hat.

         Ein Themenfaden, der manche Beiträge durchzieht, betrifft die Polarität zwischen »natürlich« und »künstlich« – auch wenn diese altmodische Terminologie eher vermieden wird.

         Stefan Kristensen und August Ruhs nähern sich der Problematik mit ihren Beiträgen über »wilde« und »verzierte« Körper aus ethnologischer und psychoanalytischer Perspektive. Der »wilde« Körper ist ein Grenzphänomen, der entweder außerhalb oder vor jedweder Ordnung gedacht wird, oder er stellt eine andere, noch unbekannte Ordnung dar, die sich der geltenden Ordnung entgegensetzt und eventuell eine andere Ordnung anregen kann. Dies setzt einen Machtkampf voraus, den der wilde Körper nur gewinnen kann, wenn ihm affektive und soziale, also seelische und mehrkörperige Ressourcen zuwachsen, womit seine Wildheit auch schon relativiert wird.

         Zunächst könnte man vermuten, dass der »verzierte« Körper, der ornamental modifizierte, sich dem »wilden« entgegensetzt, der eben erwähnt worden ist. Doch mit dem war ein Körper gemeint, der keinerlei menschliche Kultivierung erfahren hat. Hingegen sind die »Wilden« im ethnologischen Sinn solche Menschen, die ihre Absetzung etwa von den Tieren damit kenntlich machen zu müssen scheinen, dass sie ihre Körper mit kulturell codierten Bezeichnungen versehen.

         In der Südsee sind bestimmte Hautbemalungen der Einheimischen den Europäern, die im sogenannten Zivilisationsprozess derartige Markierungen längst abgelegt hatten, wiederum als auffällige Körpermodifikationen bekannt geworden und entweder als Verfemungszeichen oder als interessante Exotismen gewertet worden. Gerade im frühen 21. Jahrhundert greift die Tätowierung auch in Europa als Stilmittel einer liberalen Körperästhetisierung und ‑sexualisierung wieder um sich.

         Käte Meyer-Drawe greift in ihrem Beitrag »Schöne Körper« auf die traditionelle – etwa auch platonische – Qualitätsbezeichnung zurück und damit kann sie zeigen, dass die disruptiven Epochalisierungen, die der sogenannten Moderne (oder Postmoderne) eine »ganz andere« Realität, folglich auch ganz andere Idealvorstellungen oktroyieren, nur begrenzt gültig sind. Zwar formuliert sie eine scharfe Kritik an Schönheitsidealen, deren Durchsetzung man sich von der Schönheitsindustrie erwartet, aber sie verschweigt auch nicht, dass jedenfalls seit der griechischen Antike die Maler und Bildhauer (die im übrigen auch die Götter immer wieder neu gestalteten) die Sehnsucht nach Menschenschönheit ständig neu komponiert und projektiert haben.

         Elisabeth Schäfer legt ihren Aufsatz über »Anziehende Körper« als Zitaten-Collage an und beginnt mit der Vermutung, alle Körper (nämlich Menschenkörper) könnten so etwas sein wie Pulsare, also Neutronensterne, welche das Endstadium in der Sternentwicklung eines massereichen Sterns sind. »Sie wären dann zugleich angezogene Körper, so wie sie auch immer schon anziehend wären – für andere Körper, für Materielles und für Intelligibles.« Die Anziehung darf aber nicht so stark sein, dass die Körper zusammenfallen: die Koinzidenz würde die Existenz der Körper aufheben, welche ja im Unterschied begründet liegt (welche Begründung Jean-Luc Nancy zufolge etwas Abgründiges hat). Diese Perspektive ermögliche es, das Ästhetische und das Politische als Geschehen in einem Zwischen zu denken.

         Luce Irigaray beruft sich auf den Körperteil oder die Körperteile namens »Lippen«, die im Zusammenspiel von Konvex und Konkav, Selbst- und Fremdberührung immer wieder etwas produzieren, konsumieren, realisieren und transformieren können.

         Elisabeth Schäfer erwähnt Beatriz/Paul Preciado mit der Zusammenbastelei vieler seit jeher bekannter Körperteile und Körpertechniken mitsamt dem Schreiben und Sprechen – unter dem Titel der »Pharmapornographie«. Preciado hat auch darauf hingewiesen, dass Spinoza betont, alle Körper würden in gewissen Eigenschaften übereinstimmen – so in der »potentia gaudendi«. Manche tun sich auch in diesen Belangen hervor, und das sei ihnen gedankt. Preciado bezeichnet die Prostituierten als Elite unter den anziehenden Körpern – sie bilden da nur eine Sorte.

         Heidi Wilm kommt das Verdienst zu, mit den »Prägnanten Körpern« auch den Begriff der Gestalt wieder ins Gespräch zu bringen, der im ganzen 19. Jahrhundert eine große Rolle gespielt hat und dann um die Jahrhundertwende in mehreren Wissenschaften fruchtbar geworden ist – so in der Wahrnehmungstheorie. Ernst Cassirer und Helmuth Plessner haben den Begriff der Prägnanz philosophisch weiterverwendet. Merleau-Ponty hat ihm sein volles Profil verliehen, indem er, auf die ursprüngliche Bedeutung zurückgreifend, Nancys karge Identifizierung von Körper und Unterschied anreichert und gleichzeitig dementiert: denn der schwangere Körper ist eine Quasi-Koinzidenz von zwei Körpern und deshalb ein Ausnahmezustand, der nur ein paar Monate andauern kann bzw. muss bzw. soll.

         Der Mutterleib, den auch Michel Foucault als »Ort der Herkunft« bezeichnet hat, ist für Merleau-Ponty jedoch nicht der einzige Fall einer körperlichen Prägnanz, die Zukunft enthält und hervorbringt.

         Neben dieser futurischen Potenzialität ist den prägnanten Körpern eine besonders starke Deutlichkeit eigen, eine besondere Erscheinungsintensität oder -freudigkeit: Sie zeigen sich offensichtlich, und sie zeigen sich so, wie sie sind, sie sind monstrativ, ostentativ, vielleicht sogar aufdringlich und auffällig. Erscheinungsintensität, immanente Medialität, immanente Bildhaftigkeit – die natürlich auch durch externe Bildarbeit induziert oder gesteigert werden kann.

         Das Model und der Montblanc erweisen sich in diesem Sinn als »prägnante Körper« par excellence.

         Und ebenso das vorliegende Körperglossar.

 

[1] https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/

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