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Zenaty, Gerhard: Sigmund Freud lesen. Eine zeitgemässe Re-Lektüre,
Bielefeld 2022, transcript,

rezensiert von Christian Kläui,

in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse (2022)[1]

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»Wenn wir die zentrale Annahme von der Spaltung des Subjekts (in bewusst und unbewusst) ernst nehmen, dann ist auch unser ›Lesen‹ dieser Dynamik ausgesetzt« (S. 12). So Zenaty im Vorwort zu seinem neuen Buch, in dem er, als Leser Freuds, sein Lesen der Werke Freuds vorstellt. Was sich hier ankündigt und dem Buch den Weg weist, ist eine Lektüre, die nicht nur darlegt, was Freud mit der Einführung des Begriffs des Unbewussten in die Welt gesetzt und in die Geschichte des Denkens und der Subjektivität eingeführt hat, sondern die diesem Ereignis auch, wie Alain Badiou sagen würde, die »Treue« hält: eine Lektüre der Texte Freuds, die nicht hinter Freud zurückgehen kann, sondern seine Lektion der Spaltung des Subjekts auf- und angenommen hat.

         Zeitgemäss soll diese Lektüre sein, die als Re-Lektüre vorgestellt wird. Ohne es an die grosse Glocke zu hängen, macht Zenaty transparent, dass sein »Lesen« – im freudschen Sinne – ein Akt der Wiederholung und der Übertragung ist. Eine Wiederholung, insofern, als hier jemand schreibt, der einesteils aus der Nachträglichkeit des Heute auf die Gründungstexte der Psychoanalyse zurückschaut, und andernteils auch insofern als hier jemand, der mit diesen Texten über viele Jahre gearbeitet hat, diese für sich und uns Leser wieder liest und neu deutet. Und es ist auch ein Akt der Übertragung, nicht nur weil Zenaty Freuds Texte zusammenfassend in sein eigenes Schreiben überträgt, sondern auch weil er sein eigenes, »zeitgemässes« Fragen in die Lektüre hineinträgt.

 

Zenatys Buch ist kein Buch über die Geschichte der Psychoanalyse, dafür ist es trotz seiner stattlichen 388 Seiten thematisch zu begrenzt. Aber man erfährt aus diesem Buch mehr über die Geschichte der Psychoanalyse als aus manchem anderen Werk zu diesem Thema. Der Grund liegt im geschilderten Übertragungs- und Wiederholungs-Lesen: Zenaty arbeitet in Freuds Texten etwas ganz Bestimmtes heraus, das er in seinen Wirkungen und Konsequenzen bis heute verfolgt. Wenn man formulieren will, was dieses ganz Bestimmte ist, so kann man vielleicht dies sagen: Zenatys Fokus liegt auf dem, was den Unterschied ausmacht, auf dem Neuen, das Freuds Texte einführen und das vorher noch nicht gedacht werden konnte und eine neue Diskursivität zur Folge hat. Das mag etwas banal klingen, aber es bedeutet zweierlei. Zum einen kann und will eine solche Lektüre eine Parteinahme nicht vermeiden, wenn der Autor Stellung beziehen muss, wo er den Unterschied festmacht und welche gedankliche Linien in Freuds Werk er hervorhebt und sorgfältig und kenntnisreich nachzeichnet in ihrem Werden aus Selbstanalyse, praktischer Erfahrung, inneren Widersprüchen und Zögern, in ihrem Werden im Selbstgespräch und später immer mehr auch im Gespräch mit den anerkannten und verworfenen Schülern.

         Und zweitens gibt es dem Autor ein Kriterium, um nachfreudianische Entwicklungen zu gewichten. Ein gutes Beispiel dafür ist seine Diskussion der Wirkungsgeschichte von Freuds Narzissmustheorie (S. 150ff.), in der Zenaty sehr klar und nachvollziehbar darlegt, wer welche Neuerungen Freuds aufgenommen oder zurückgewiesen hat. Die Rückbindung der Wirkungsgeschichte der Freudschen Texte auf das gründende Ereignis ihrer Formulierung schafft keinen Überblick über die Geschichte der Psychoanalyse und wird schon gar nicht all ihren postfreudianischen Strömungen gerecht, aber sie legt Bruch- und Konfliktlinien frei und eröffnet auf diese Weise viele Klärungen und hilfreiche Einschätzungen zum Verständnis heutiger Debatten. Dabei muss man Zenatys Parteinahmen nicht teilen, auch für Leser*innen, die anderen Traditionen der Psychoanalyse anhängen, ist Zenatys Arbeit wertvoll, weil sie kenntlich macht, um welche Einsätze sich die Kontroversen drehen.

 

Das Buch ist so aufgebaut, dass Zenaty wichtige Texte Freuds in ihrer Entstehungsgeschichte verortet, in ihrem Inhalt vorstellt und in ihrer Stellung in Freuds Werk und im Nachleben bis heute diskutiert. Zenaty geht dabei – mit einer Ausnahme – weitgehend historisch vor, aber er gruppiert die Texte nicht in einer schlichten linearen Chronologie, sondern ausgerichtet auf die Schlüsselereignisse in Freuds Werk, in denen das hervortritt, was den Unterschied ausmacht. Er zeigt dabei auch plausibel auf, dass die innere Bezogenheit von »Theorie« und »Technik« durch das ganze Schaffen Freuds hindurch wirkt, und zwar, wie Zenaty formuliert, mit einer »diskurslogischen Priorität« der Technik (S. 189). 

         Das Nachzeichnen der Entstehung von Freuds Werk ist also auch eine Setzung einer Zeitlichkeit, Zenaty spricht von »Dreizeitigkeit«. Es gibt die Zeit der Erfindung der Psychoanalyse mit den frühen behandlungstechnischen Schriften und dem bahnbrechenden Gründertext Die Traumdeutung; es gibt die zweite Zeit des »Vermächtnisses« mit den Schriften der dreissiger Jahre im Gefolge der Errungenschaften von Jenseits des Lustprinzips; und es gibt schliesslich die dritte Zeit, die die unsere ist, die »Zeit der nach-freudschen Psychoanalyse mit ihren heterogenen Schulen und Richtungen« (S. 13). 

 

Wenn Zenaty also von zwei Zeiten in Freuds Werk spricht, beschreibt er damit eine inhärente Spannung: Auf der einen Seite stellt Zenaty bei Freud selbst eine Treue zu seinen frühen Entdeckungen fest: »Liest man Freuds Werk historisch, so erweist sich, dass grundlegende Ideen und Konzepte vom frühen Entwurf bis zum letzten Text des Abriss sich erhalten, modifiziert und ausdifferenziert haben« (S. 307).

         Und auf der anderen Seite brechen neue Gedanken hervor, die die bisherigen Errungenschaften sprengen: »Jenseits des Lustprinzips muss, wenn wir die tiefgreifende Wirkung sowohl auf Freuds weitere Theoriebildung als auch auf die Entwicklung der Psychoanalyse bis heute bedenken, als ›Gründertext‹ ähnlich wie Die Traumdeutung verstanden werden. Die fundamentale Neufassung der Trieblehre macht ein Überdenken und Neujustieren so gut wie aller psychoanalytischen essentials notwendig« (S. 306).

         Ein »close reading« der Texte und Theorien im Detail ermöglicht es Zenaty herauszuarbeiten, wie dies zusammengeht. Seine Deutung reflektiert gewiss auch unsere heutige Position der Nachträglichkeit, in der sich die Frage von Kontinuität – in einem kulturellen und psychotherapeutischen Umfeld, das der Psychoanalyse, vorsichtig gesagt, mit wechselnden Sympathien begegnet – und Neubegründung immer wieder neu stellt. Jedenfalls liegt das Schwergewicht von Zenatys Ausführungen zur dritten Zeit bei Lacan und der lacanianischen Ausrichtung der Psychoanalyse, die exemplarisch zeigt, dass eine Rückkehr zu Freud zugleich eine Neuerfindung sein muss, will sie nicht historisch und steril bleiben.

         Ausgenommen von seinem Vorgehen, den historischen Linien zu folgen, hat Zenaty die kulturtheoretischen Schriften Freuds, die er an den Schluss des Buchs stellt. Ich würde diesen Verzicht, die Stränge der Individual- mit denen der Sozial- oder Massenpsychologie ineinander zu verweben, als Symptom verstehen: insbesondere auch, weil Zenaty aufzeigt, dass die Stellung der kulturtheoretischen Schriften bereits in Freuds Werk und besonders in dessen postumer Rezeption schwankend bleibt. Zenaty weist die Idee, Freuds Reflexionen über Gesellschaft und Kultur als »Privatmeinung« und als »Zusatz« zur Psychoanalyse zu betrachten, zurück und begreift sie vielmehr als eine ausdifferenzierende Entfaltung derselben (S. 310). Die dritte Möglichkeit, von einer wirklichen inneren Verbindung im Sinne eines Verhältnisses wechselseitiger Inspiration auszugehen, insofern als es um die im Individuellen wie im Kollektiven grundlegende Beziehung des Einzelnen zum Andern geht, wird allerdings auch angedeutet. Sie würde es ausschliessen, Freuds »Projekt einer Kulturtheorie« aus der Lektüre der klinischen Schriften auszuschliessen und diesen nachzuordnen. Was könnte eine derartige Re-Lektüre hervortreiben? Vielleicht, ich möchte es anregen, schreibt Zenaty darüber einen zweiten Band?

 

Das Buch richtet sich an alle an der Psychoanalyse interessierten und mit ihr beruflich befassten Leser*innen, es ist über Grenzen der unterschiedlichen psychoanalytischen Ausrichtungen und Schulen hinaus mit Gewinn lesbar. Seine Sicht auf die postfreudianischen Kontroversen ist eine kenntnisreiche und pointierte Orientierungshilfe. Die inhaltlichen Einlassungen zu den Texten Freuds sowie ihre Zusammenfassungen werden ihren Platz auch in Aus- und Weiterbildung haben und bestenfalls anregen, Freuds Originaltexte dort wieder mehr zu berücksichtigen. 

 

 

 

 

[1]  https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/

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