Tögel, Christfried (Hg.); Zerfaß, Urban (Mitarbeit): Sigmund-Freud-Gesamtausgabe in 23 Bänden, Bd. 21, 440 Seiten, Gießen 2022, Psychosozial-Verlag, € 89,90
rezensiert von Karl-Josef Pazzini,
in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse (2023)[1]
In Band 21 sind Interviews und Vorträge aus Freuds publizistischer Tätigkeit der Zeit zwischen 1877 und 1939 abgedruckt. Möglich wird ein schneller Gang durch die Abfolge der Themen, die Freud, aber auch seine Rezipienten beschäftigte. Eines von 21 der hier abgedruckten Interviews und zwei der in den Band aufgenommenen 39 Berichte über Vorträge sind im Nachtragsband der Gesammelten Werke (GW) erschienen.
Die 21 Interviews sind sehr unterschiedlicher Art. Mal handelte es sich um strukturierte Interviews, manchmal sind – so der Herausgeber Christfried Tögel – einzelne Sätze Freuds in einen Bericht eingebunden, manche sind Gespräche. Nicht abgedruckt sind die publizierten Interviews, die nachweislich nicht stattgefunden haben. Tögel gibt ein Gesamtverzeichnis der nachweisbaren Interviews (S. 16f.). Knapp 70 Vorträge Freuds sind mit Thema, Ort und Datum bekannt. Von 39 sind in diesem Band »Berichte und Zusammenfassungen bzw. Korrespondenten von Fachzeitschriften« (S. 223) abgedruckt.
Es findet sich z.B. ein despektierlicher Bericht André Bretons über einen kurzen Besuch bei Freud, Interview genannt:
»[B]in ich nicht böse, wenn ich erfahre, dass der größte Psychologe unserer Zeit in einem mittelmäßig aussehenden Haus in einem verlorenen Stadtteil von Wien wohnt. […] Eine bescheidene Plakette am Eingang. […] ein nicht besonders hübsches Dienstmädchen, […] Fotografie, die den Meister inmitten seiner Mitarbeiter zeigt, ein Dutzend Personen der vulgärsten Art, […] kein Stoff für die kleinste Reportage. […] Vor mir steht ein kleiner, unscheinbarer alter Mann, der in seiner armseligen Praxis als Gemeindearzt empfängt.« (S. 55)[2]
Skurrile Interviewer, wie George Sylvester Viereck, Deutsch-Amerikaner, vermutlich Enkel von Kaiser Wilhelm I, im Kontakt mit Freud seit 1919, tauchen auf. Viereck fährt nach dem Gespräch mit Freud (S. 59–64), das er auf Englisch publiziert, nach München weiter, um Hitler zu interviewen (1923), für den er schon seit drei Jahren propagandistisch tätig war. Der Bericht über das Gespräch mit Freud gibt Grundzüge der Psychoanalyse knapp wieder.
Carl Dymling, schwedischer Theologe, war »Beim Meister der Tiefe« und hält seine Balance, indem er Freud »einen Gedächtnisfehler« nachweist, den er im Gespräch nicht offenlegt, aber in der Aufzeichnung ausbreitet: Alexander von Humboldt habe entgegen Freuds Erinnerung Stockholm nicht für eine der schönsten Regionen der Erde gehalten, sondern überhaupt nicht erwähnt (S. 95).
Ein weiteres Interview, das Viereck mit Freud führt, erscheint in unterschiedlichen Sprachen, Schwerpunkten und Längen im selben Jahr, 1927, in einer deutschen Fassung. Zuvor war Viereck in Doorn bei Wilhelm II gewesen.
Freud: »›Die Duldsamkeit gegenüber dem Schlechtem ist durchaus keine notwendige Ergänzung der Erkenntnis.‹ Wir kamen auf die Rassenfrage zu sprechen. – ›Ich spreche die deutsche Sprache,‹ sagte Freud, ›und ich lebe im deutschen Kulturkreis. Ich habe mich so lange in geistiger Beziehung als Deutscher gefühlt, bis ich das Wachstum des Antisemitismus in Deutschland und Österreich beobachten konnte. Seither ziehe ich es vor, mich als Jude zu fühlen.‹ – Freud erörterte meinen Einwand, daß die Menschen vielleicht glücklicher wären, wenn sie von dem geheimen Triebwerk ihrer Gedanken und Gefühle weniger wüßten, und wenn nicht durch die Psychoanalyse das Tier im Menschen so rückhaltlos entlarvt worden wäre. ›Ich weiß nicht, was man gegen das Tier eigentlich einzuwenden hat‹ sagte Freud. ›Ich ziehe die Gesellschaft der Tiere der menschlichen Gesellschaft bei weitem vor‹« (S. 120f.).
Drei Gespräche, geführt 1935 in der Bergasse und in Freuds Sommerhaus in Grinzing, kreisen um Freuds Beschäftigung mit dem Okkultismus: Hans Habe »Berggasse 19: Professor Freud und das Jenseits« und Suniti Chatterji »Vienna – A meeting with Freud« (S. 173–184) und Cornelius Tabori »Freud on Occultismus« (S. 185–193).
Einige Vorträge Freuds sind weiterbearbeitet in Arbeiten, die sich in den GW finden. In diesem Band zusammengestellt in Form von Berichten und Ankündigungen sind 22 von ihnen, die bisher in keinem Verzeichnis erwähnt sind. Tögel gibt außerdem Informationen zu den Orten, an denen Freud die Vorträge gehalten hat: B’nai B’rith, Wiener Psychoanalytische Vereinigung, Physiologischer Club, Psychiatrischer Verein, Wiener medizinischer Club, Gesellschaft der Ärzte und Wiener Medizinisches Doktorenkolloquium. Die Berichte über die Vorträge umfassen zwischen zwei und fünf Druckseiten mit Informationen zum Anlass und Ort. Eine Ausnahme bildet ein Bericht über einen Vortrag Über Hypnose und Suggestion (14 Seiten). Daraus nur ein Satz: »es gibt keine Hypnose, sondern nur verschiedene Arten und Grade der Suggerirbarkeit.« (S. 253). Durch den Bericht hindurch teilt sich Freuds Forscherfreude, Neugier, Begeisterung, aber auch deutlich Distanz zu einer Begeisterung mit.
Freud geht immer wieder von Zeitungsberichten aus. Die Wiener Tageszeitung und Die Reichspost berichten von der schweren Erkrankung der Kaiserin Charlotte von Mexiko. In einem Vortrag in der Wiener Vereinigung (1912) geht es ihm darum, die »geheimen Motive hinter den Symptomen [der Kaiserin, KJP] zu erraten« (S. 395).
Der vorliegende Band ähnelt einem Verzeichnis von Interviews und Vorträgen, ist ein erweitertes Stichwortregister zur Entwicklung von Freuds Untersuchungsschwerpunkten. Der Band enthält Hinweise auf Freuds publizistische Aktivitäten, die bisher so nicht bekannt waren. Wie bei den bisherigen Bänden findet sich am Ende des Bandes ein umfängliches Personen- und Sachregister, eine Konkordanz der Publikationsorte der jeweils im Erstdruck enthaltenen Schriften.
[1] https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/rezensionen
[2] Übersetzung: KJP.