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Auf dem Altar der Triebe: Zwischen Aggressivität und Sinnlichkeit

 

Widmer, Peter: »Jeder geht auf den Tod des Anderen«. Ein Kurs mit Materialien.
Würzburg 2022, Königshausen & Neumann, 2022,

rezensiert von Bernhard Schwaiger,

in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse (2023)[1]

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Nun also noch mehr. Als hätte der Mensch nicht genug mit seiner triebgesteuerten Aggressivität zu tun. Es gibt eine weitere Form, die nichts anderes im Sinn zu haben scheint, als den einen Sprechkörper vom anderen zu trennen, das soziale Band zu zerstören.

Peter Widmers neuestes Werk, benannt nach einem Hegel-Zitat »Jeder geht auf den Tod des Anderen«, ist eine Fortsetzung seines 2021 publizierten Buchs Destruktion des Ichs: Psychoanalytische Annäherungen an den Ursprung menschlicher Aggression, in dem der Autor die Frage einer nicht-libidinösen Aggressivität verfolgt. Es geht Widmer nicht um jene notwendige Aggressivität und Destruktion, »wenn es um die Sprengung der Unmittelbarkeit oder der begriffslosen, sinnlichen Gegebenheiten geht« (S. 279), das heißt den Eintritt in eine symbolische Ordnung, sondern um die Vernichtung und Auslöschung des Anderen, eine Aggressivität, die entkoppelt von den Trieben auf die Zerstörung jeglichen sozialen Bandes abzielt. Dabei greift Widmer Fragen nach Subjekt und Zeit auf, die er im vorhergehenden Band entwickelt hat, und die er mit dem, in der Psychoanalyse sehr ambivalenten besetzten Begriff des Selbst, auf neue Weise in Verbindung bringt: Vergangenheit als Symbolisches, Gegenwart als Reales, Zukunft als Imaginäres in Bezug auf Körperlichkeit, Unbewusstes und Ich.  

Editorisch geht Widmers Buch neue Wege: »ein Kurs mit Materialien« heißt es im Titel. Es wird dem Lesenden der »Zettelkasten«, das Archiv des Autors, großzügig zur Verfügung gestellt. So wird nach jeder Seminar-Sitzung eine Text- und Zitatsammlung aufgeführt, die uns zu einer weiteren, eigenen Erforschung einlädt. Die Materialen (zu Freud, Lacan, Winnicott, Hegel, Kant, Husserl, Blanchot u.v.a.), die den theoretischen Ausführungen folgen, gehen weit über die üblichen Fußnoten hinaus und bereiten dem Leser dieses Feld der Weiterforschung vor.

Und eben eine solche Öffnung stellt auch die Befragung der Psychoanalyse dar. So stellt Widmer fest: »Das Selbstbewusstsein hat zu Unrecht in der Psychoanalyse eine schlechte Presse, weil es aufgefasst wird als eine Substanz, die dem Unbewussten widerspricht. Das Selbstbewusstsein lässt sich auch anders denken: als formale Instanz, als Ort einer Zeitlichkeit, die der Körper materialisiert, […] ohne dass das in geringster Weise dem Unbewussten widerspricht. « (S. 13)

Dieser Körper, dessen Bild im Spiegelstadium zum Ausgangspunkt von Verkennung, Enteignung und (daraus folgend) aggressiven Rivalitäten wird, ist auch ein Ort der Sinnlichkeit. Von hier ausgehend gelingt es Widmer, die Lacanschen Ausarbeitungen mit eigenen Überlegungen zu verknüpfen: Er differenziert Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft, also von Kant ausgehende und von Lacan vernachlässigte Unterscheidungen, um diese Kategorien mit den Registern des Imaginären, Realen, Symbolischen und des Mangels (Frustration, Privation, Kastration) zu verknüpfen. Diese Tableaus, die Lacan im Seminar »Die Objektbeziehung« ausarbeitete, führen zu Überlegungen hinsichtlich der aktuellen psychoanalytischen Klinik: Hysterie, Zwang, Anorexie und Transsexualität.

Dies gibt die Richtung des vorliegenden Buchs vor, im Sinne der Lacanschen Ausrichtung der Kur (direction de la cure), keine Lenkung, sondern eine Denkbewegung: Der Leser soll die Möglichkeit erhalten, sich mit diesen Überlegungen weiter zu befassen – ausgerichtet an Freud und Lacan.

Dabei bleibt stets ein Bezug zur Klinik, das heißt zum Sprechen gewahrt, d.h. zur énonciation: Dass gesprochen wird, ist die einzige Garantie einer psychoanalytischen Klinik. Wissen, Wahrheit und therapeutische Wirkung folgen daraus. Und auch wenn diese Klinik mit philosophischen Konzepten enggeführt wird, bleibt diese Praxis bestehen. Einige Zitate aus dem Buch, in denen die Unterscheidung von Sinnlichkeit, Verstand, Vernunft mit psychischen Problemen in Verbindung gebracht wird, mögen diese Nähe zur Klinik veranschaulichen: 

 

»Die Sinnlichkeit bezeichnet das, was vom Verstand erfasst wird, wobei nicht alles in Sprache übergehen kann. Was ausgeschlossen bleibt, ist in der lacanschen Terminologie als Objekt a bezeichnet. Dieses kann Ort eines Mangels sein, wobei dem Geschlecht eine besondere Bedeutung zukommt, da es sich nicht ohne Vergleich bestimmen lässt und damit per se Ort der Unvollkommenheit wird. Die Transsexualität ist die Pathologie davon, weil sie glaubt, im anatomisch anderen Geschlecht den Mangel des anatomischen Geschlechts beheben zu können. «

 

Aus der Perspektive des Verstandes werden Hysterie und Zwang betrachtet und erklärt:

 

»Der Verstand wird hier mit dem Imaginären gleichgesetzt, obwohl er an die Sprache gebunden ist. […] Der Verstand hat als Ideal ein vollkommenes Objekt, das jedoch unmöglich ist«.

 

Und die Vernunft in einer übersteigerten Reinheit gebiert ebenfalls Pathologien:

 

»Da die Vernunft ohne empirische Objekte ist und Ideen wiedergibt, verkörpert sie die Signifikanten im Zusammenwirken mit der Stimme und führt damit den Seinsmangel ein. Die Anorexie ist der pathologische Ausdruck davon, weil begehrt wird, den Körper abzukoppeln, um eine unkörperliche Reinheit anzustreben«. (S. 114)

 

Diese Unmöglichkeit eines idealen Objekts (was auch den eigenen Körper implizieren kann) führt den Autor zur Problematik von Genitalität, Liebe und Hass: Etwas widersetzt sich einer harmonischen Auflösung, wie es Freud bereits im Unbehagen in der Kultur darstellte. Auch bei Lacan hat die Liebe nicht nur das Potential, den Hass zu überwinden, sondern auch die Möglichkeit »einer Passage ins Tödliche« (S. 185), da das Objekt des Triebs nie vollkommen in verbalen Signifikanten aufgeht.

Subjektwerdung ist nur in ständiger Auseinandersetzung mit anderen Subjekten und dem Anderen der Sprache möglich. Diese strukturale und auch kulturelle Voraussetzung lässt eine Entwicklung, also einen genetischen Aspekt, erst zu. Auf diese Weise wird einsichtig, dass Freuds Abhandlungen zur Sexualtheorie, Primär- und Sekundärprozesse usw. auf einer Verknüpfung von strukturalen und genetischen Gegebenheiten bzw. Prozessen basieren. Aber eine Verknüpfung ist eben keine harmonische Auflösung, was ja Lacan später mit der Topologie des Borromäischen Knotens demonstrierte.

Selbsterhaltung und Sexualität, diese erste Setzung eines Triebgegensatzes durch Freud, veranschaulicht Widmer folgendermaßen: Die Sexualität und Liebe wird auf einer horizontalen Achse positioniert, begrenzt von den extremen Positionen des Phallus-Seins (Masochismus) und des Phallus-Habens (Sadismus). Vertikal durchkreuzen die Pole eines absoluten Anderen (der in einer extremen Identifizierung auch ein absolutes Ich als Phantasma haben kann) und der entgegengesetzte Wunsch, mit allen anderen eins zu sein, die Achse der Sexualität (S. 155). In diesem Bedingungsgefüge, also einer strukturellen Gegebenheit, variieren die Entwicklungsmöglichkeiten des Subjekts. Die Entwicklung des Subjekts in dieser strukturalen Gegebenheit, die ein Spannungsfeld beschreibt, ermöglicht den Selbsterhalt, indem diese grundlegende Spannung eben nicht aufgelöst wird.

Auf diese – zuweilen auch graphisch – anschauliche Weise werden grundlegende Begriffe und Konzepte der Freudschen und Lacanschen Psychoanalyse mit neuen Überlegungen und Herausforderungen verknüpft: Privation, Ding, Ödipus, Hilflosigkeit, Projektion, Narzissmus u.a. werden aus einer oft überraschenden Perspektive betrachtet, nicht um einen synoptischen Überblick zu erarbeiten, sondern um die Aktualität analytischer Praxis und Theorie aufzuzeigen, und dies – wie eingangs erwähnt – mit den Textausschnitten aus philosophischen und analytischen Grundlagenwerken. So bspw. die Weiterführung einer Zeittheorie, die Vergangenheit als Symbolisches, Gegenwart als Reales und die Zukunft als Imaginäres setzt und damit mit Lacan über dessen Konzept einer logischen Zeit (Betrachten, Begreifen, Abschließen) hinausgeht.

Den zentralen Gedanken des Buchs, die Annahme einer nicht-libidinösen Aggression und Destruktion, entwickelt Widmer auch anhand klinischer Beispiele aus der Praxis und der Presse, den fait divers, so eine Amoktat bzw. Mehrfachtötung (München 2016). Diese »frei gewordenen« Aggressionen, die eben zu keiner Befreiung führen, oder unvermeidbare Äußerungen einer Desidentifizierung, die eine analytische Kur mit sich bringt, darstellen, wurzeln tief im archaischen Gefühl der Hilflosigkeit, einer Nicht-Teilnahme an der Gesellschaft, der Unfähigkeit an Diskursen zu partizipieren und deren notwendige Verkennung, Täuschung und auch Enttäuschung auszuhalten. Der oder das Andere findet keinen Zugang zur Subjektivität, bleibt archaisches Objekt, das aus dem Weg geräumt werden muss. Intersubjektivität heißt bei Widmer, dass der andere erst einmal als Subjekt (in seinem Begehren) wahrgenommen werden muss, damit auch libidinöse Strebungen und Bindungen, also Sexualität entstehen kann. Diese Archaik nicht-libidinöser Aggressivität lässt an Walter Burkerts »Homo Necans« denken:

 

»Wir wissen heute, daß Theophrast und viele andere Romantiker sich über die Entwicklung der Menschheit getäuscht haben: es ist vielmehr der alte Jagdinstinkt, der die Kruste der Zivilisation durchbricht. Längst hat sich hinter der Heiligkeit des Altars die Aggression gestaut«.[2]

 

Die Libido wäre sozusagen der Altar der Triebe, auf dem mittels Kastration die Akzeptanz einer Einschreibung erfolgt. Und dennoch staut sich etwas auf. Hier wünscht sich der Lesende eine Fortsetzung des Kurses: Wie verhält sich Lacans Jouissance in ihren verschiedenen Gestalten zu dieser nicht-libidinösen Destruktivität? Die Kunst, im Lesenden die Lust auf eigene Fragestellungen und eigenes Weiterdenken anzuregen, ist die große Stärke dieses Buchs. Die nie endgültig zu beantwortende Frage nach der Schnittstelle von Biologie/Körper und Psyche beschäftigte Freud, wenn er von toxischen Sexualstoffen oder von der Zukunftsvision einer Therapie spricht, die »mit besonderen chemischen Stoffen die Energiemengen und deren Verteilungen im seelischen Apparat direkt zu beeinflussen«[3] weiß. Und so sehen wir uns auch aktuell in der Situation, dass die Psyche entweder biologistisch auf eine Neurotransmittertheorie reduziert wird, oder – im anderen Extrem – alles kulturalistisch relativiert wird, indem jede biologische Determinierung verschwinden soll. Die Anstrengung, beides zu denken, ist der Analyse eigen und so ist die Auseinandersetzung Widmers mit einer nicht-libidinösen Aggression und Destruktion eine Weise, eben dieses Spannungsfeld von Natur und Kultur nicht zu nivellieren, sondern als Grundlage einer psychoanalytischen Forschung zu betrachten.

Wie sein Vorgänger zeigt dieses Buch einen Weg auf, wie die Psychoanalyse Freuds und Lacans lebendig weiterverfolgt werden kann, im Sinne eines Weiterforschens, das ein Weitersprechen und damit, gemäß des Freudschen Junktims auch weiterhin Wirkungen einer Kur erzeugt, ohne zu einer gelenkten Psychotherapie oder akademisch betriebenen Science Humaine zu regredieren.

 

 

 

[1] https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/rezensionen

[2] Burkert, Walter: Homo Necans – Interpretationen altgriechischer Opferriten und Mythen. Berlin, New York 1997, De Gruyter, 2. Aufl., S. 156

[3] Freud, Sigmund: Abriss der Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, Bd. XVII, S. 108

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