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Mooij, Antoine: Lacan and Cassirer. An Essay on Symbolisation. Übers.: P. van Nieuwkoop, Leiden-Boston 2018, Brill-Rodopi,

rezensiert von Artur R. Boelderl,

in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse (2023)[1]

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Ausgehend von der etwas grobschlächtigen Auffassung, dass der Medial Turn in der Philosophie auf der Annahme beruhe, jedweder Zugang zur Wirklichkeit sei symbolisch vermittelt (und Symbole seien mehr oder weniger unterschiedslos Bilder, Worte, Signifikanten), unternimmt diese 2018 in englischer Übersetzung vorgelegte Studie des emeritierten Utrechter Professors für Recht und Psychiatrie Antoine Mooij eine vergleichende Lektüre der Denkansätze des neokantianischen Philosophen Ernst Cassirer und des neostrukturalen Psychoanalytikers Jacques Lacan im Blick auf deren mutmaßlich geteilte Auffassung des Menschen als animal symbolicum. Der niederländische Originaltitel In de greep van de taal bringt den vom Autor insinuierten gemeinsamen Boden, auf dem er die beiden Denker ansiedelt, besser auf den Punkt: Im Griff der Sprache sieht er sie, und ihre jeweiligen Denkwege erwiesen sich, setze man sie vor diesem Hintergrund erst einmal recht zueinander in Beziehung, auf solche Art und Weise komplementär, dass sie einander de facto korrigierten, was ein angemessenes Verständnis von Symbolisierung und Bedeutungskonstitution betrifft.

Inwieweit diese Erkenntnis erst Ergebnis des Vergleichs ist bzw. war, oder ob sie nicht umgekehrt bereits dessen Voraussetzung im Sinne einer vorweggenommenen Möglichkeitsbedingung zur Durchführung der Studie als solcher geliefert hat, sei dahingestellt. Auf dem Weg, den der Autor in beachtlicher sprachlicher Klarheit und wohlüberlegter Struktur mit seinen Leser:innen im Anschluss an eine kurze Einleitung in vier Hauptabschnitten geht, gelingt es ihm jedenfalls, eine beim zweifellos gespaltenen Publikum (Cassirer-Kenner hie, Lacan-Intimi da) zu vermutende anfängliche Skepsis hinsichtlich der Gangbarkeit desselben wenn nicht vollends zu entkräften, so doch gehörige Zweifel über die Sinnhaftigkeit des Unterfangens aus ehrlich gewecktem heuristischem Interesse hintanzustellen. Der Knackpunkt einer bei eingehender Beschäftigung mit beiden Ansätzen – zu der das Buch entsprechende Lust zu machen versteht – vielleicht nicht endgültig, aber doch einigermaßen seriös zu beantwortenden Frage nach der Triftigkeit der skizzierten These von deren wechselseitiger Erhellung und Korrektur besteht nach Ansicht des Rezensenten darin, ob denn wirklich derselbe Prozess gemeint sei, wenn Cassirer und Lacan jeweils von Symbolisierung reden, oder ob nicht vielmehr eine Homonymie vorliegt, welche eine prinzipiell unüberbrückbare Kluft gleichsam begrifflich zudeckt. In des Autors eigenen Worten findet sich dieser Punkt am Ende des 1. Abschnitts an- und ausgesprochen: »Cassirer embraces the primacy of signification in his discussion of the question of symbolisation, a choice that is called into question by Lacan, while embracing the primacy of the signifier.« (S. 36) So gegensätzlich formuliert, kann schlechterdings, wenn der eine in dieser maßgeblichen Frage nicht recht hat, der andere nicht zugleich Unrecht haben, und damit stünde dann wohl auch eo ipso die hauptsächlich propagierte Komplementaritätsthese auf der Kippe.

Wieder aufgenommen wird die entsprechende Diskussion dieses Punktes, nachdem im 2. Abschnitt ausführlich Cassirers Auffassung vom Symbol als Form »in the making« (S. 89 u.ö.) sowohl historisch-genetisch hinsichtlich deren philosophischen wie wissenschaftlichen Quellen als auch systematisch in ihrer Bedeutung für das Bild vom Menschen als animal symbolicum dargelegt wurde, im Rahmen des 3., zunächst ausschließlich Lacan gewidmeten Abschnitts gegen dessen Ende hin (S. 166–175), wo Lacan und Cassirer zunächst »juxtaposed« (Kap. 3.10) und sodann »put into a mutual relationship« (Kap. 3.11) werden – zweifellos die argumentativ gesehen im besten Sinn des Wortes kritischsten Seiten des Buches, ohne mit dieser Einschätzung den darauf folgenden 4. und letzten Abschnitt desselben, der mit der Zielsetzung einer Phänomenologie der Symbolisierung durch eine Art Engführung von conditio humana und Symbolfunktion umfassendere Konsequenzen nicht zuletzt praktischer Natur (z. B. politische, rechtliche, ethische) im Sinne eines eigenständigen Fazits aus dem vorher durchgeführten Vergleich zu ziehen versucht, in seiner Bedeutung schmälern zu wollen. Auf diesen Seiten lesen wir »culture is caesura. This notion connects the two: Lacan and Cassirer« (S. 166, Herv. i.O.), um wenige Zeilen später zu erfahren, dass »it is this very concept of a caesura that both connects and separates them« (ebd., Herv. i.O.).

Was zunächst einen dialektischen Ausgleich zwischen diesem in der Zäsur verorteten Widerspruch anzubahnen scheint (der Lacan vermutlich mehr zugesagt hätte als Cassirer), wird indes vom Autor weiter so erläutert, dass er der Zäsur selbst eine dynamische und eine statische Komponente zuerkennt (vgl. ebd.): Mit dynamisch ist das zeitliche, prozedurale Moment des (so notwendigen wie unvermeidlichen) Verlusts der Unmittelbarkeit (von Sinn) zugunsten der Heraufkunft der symbolischen Bedeutung gemeint, wohingegen als statisch das weniger chronologische als vielmehr streng logische, näherhin strukturale Moment der bleibenden, quasi-ontologischen Unzugänglichkeit des Realen adressiert ist. Und an diesem Punkt zeigt sich wiederum die bereits eingangs augenfällig gewordene Divergenz zwischen Cassirer und Lacan, über deren bloße, wenngleich freilich sukzessive klarer und, was ihre Reichweite betrifft, auch umfassender zu Tage tretende Registrierung die Vergleichsstudie dennoch nicht und nicht hinausgelangen will (was die erwähnte Skepsis nolens volens in Erinnerung zu rufen angetan ist):

 

»[Sc. Lacan’s] concept of the signifier implies that of the real, as an impossibility, as that which cannot be processed from the sum of all systems of representation, and which is ›unsayable‹ from within. We could say that this insight constitutes Lacan’s correction of Cassirer’s view. And yet it may well be that Lacan eventually overshot the mark. Certainly from Cassirer’s perspective, qualifying the real as such (without law, without order, as unthinkable, etcetera) would be taking things too far.« (S. 170, Herv. i.O.)

 

Wenn schließlich gilt: »What Cassirer can do […] is precisely what Lacan cannot do« (S. 171, Herv. i.O.) – und vice versa, möchte man hinzufügen –, worin besteht dann, unter der Annahme, dass es für den einen wie den anderen jeweils gute Gründe dafür gibt, anders zu denken, die Sinnhaftigkeit eines so großangelegten (und noch so gewissenhaft und sauber durchgeführten) Vergleichs? Es ist vielleicht alles andere als zufällig, wenn solche Gegenüberstellung im Blick auf wechselweise Beziehung im Anschluss an die zitierten Passagen im Buch an einen ideengeschichtlichen Punkt nicht etwa voraus-, sondern ganz im Gegenteil zurückführt, an dem sich die Geister Cassirer und Lacan jeweils ihrerseits auf eigene Weise schieden und den jeder der beiden für sich überwunden bzw. anders gelöst zu haben meinte: Heideggers Rede von der Als-Struktur des Daseins in den Verstehen und Auslegung gewidmeten §§ 32–33 von Sein und Zeit (vgl. S. 174f.). Dieser für sich genommen vielleicht wenig befriedigende Lektüreertrag mag indes seine gemäße Würdigung darin finden (und mit ihm die Leistung des vorliegenden Buches), dass er als Problemanzeige fungiert und als solche verstanden werden will, dahingehend nämlich, dass in der einschlägigen Debatte um den Menschen als animal symbolicum, wie sie nicht erst seit dem Medial Turn, sondern – teils noch unter dem Titel des Linguistic (oder Symbolic) Turn – bereits seit den 1920er Jahren geführt wurde und wird, weder in historischer noch in systematischer Hinsicht das letzte Wort gesprochen ist – oder geschrieben.

 

 

 

[1] https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org/rezensionen

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