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RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse #99 (2023)

 

An Namen (Platon, Rousseau, Zola, Freud etc.)

von Philippe P. Haensler

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»[…] wenn man z. B. von einem sonst schamhaften Mädchen verlangt, sich zu entblößen, oder von einem ehrlichen Mann, sich einen wertvollen Gegenstand durch Diebstahl anzueignen, kann man einen Widerstand […] bemerken […].«

– S. Freud, Psychische Behandlung (Seelenbehandlung)

 

Im Jahr 1938 verfasst Sigmund Freud eine Notiz, an deren Anfang ein Datum, in direktem Anschluss eine -nahme zu lesen ist: »3.VIII. Letzter Grund aller intellektuellen und Arbeitshemmungen scheint« – eine Lektüre, die nicht an diesem Punkt des Texts schon aufgeben, vom Text aufblicken (und also schlicht -hören) will, hat keine andere Wahl, als Freuds Ansicht für den Moment für die eigene zu nehmen, einen Augenblick zu teilen –

 

»die Hemmung der kindlichen Onanie zu sein. Aber vielleicht geht es tiefer, nicht deren Hemmung durch äussere Einflüsse, sondern deren unbefriedigende Natur an sich. Es fehlt immer etwas zur vollen Entlastung und Befriedigung – en attendant toujours quelque chose qui ne venait point – und dieses fehlende Stück, die Reaktion des Orgasmus, äussert sich in Aequivalenten auf anderen Gebieten, Absencen, Ausbrüchen von Lachen, Weinen (Xy), und vielleicht anderem. – Die infantile Sexualität hat hier wieder einmal ein Vorbild fixiert.«i

 

Anderen vielleicht anderes, scheint mir an diesem Gedankengang Freuds insbesondere bemerkenswert, dass er nicht aus einem Guss ist. Die intellektuelle Arbeit sieht sich, anders und genauer, hier zweifach gehemmt: einerseits durch einen äußeren Einfluss bzw. fremdsprachigen -schub – »en attendant toujours quelque chose qui ne venait point« –, der – eine Übersetzung der »fehl[enden]« »vollen Entlastung und Befriedigung«, ihr Äquivalent auf anderem, französischem Gebiet? – das Ende des Satzes hinauszögert, auf den abschließenden Punkt länger, als vielleicht nötig wäre, warten lässt; gehemmt andererseits oder ins Straucheln gebracht durch eine Klammer, die nichts (Wörtliches) enthält, dem Nachdenken Freuds gerade so, wortwörtlich nichts sagend, aber ein fehlendes Stück hin-, ihm ebendas Schlagloch zufügt, das sie (eben die Klammer und eben behelfsmäßig: in die Bresche, die sie selbst ist, springend; ein aus anderem Holz geschnitztes, aus einem Splitter antiken, altgriechischen Holzes, ξύλον [xylon], verfertigtes Brettchen darüberlegend) ausgleicht. Kurz: Freuds Sätze, die den »intellektuellen und Arbeitshemmungen« auf den »[l]etzte[n] Grund« und dabei noch »tiefer« »geh[en]« wollen, laden zur Suche ein. Nach Namen vor allem anderen: dem der Urheber*in des französischsprachigen Zitats (gesetzt, es sei ein solches) und dem wahren – und es muss ein Name sein, zumindest ein Wort und darf nicht mehr sein in den Augen der (Numero)Philolog*in, die in Freuds am 3.8. '38 verfassten Sätzen 83 Wörter zählen will – dessen, was sich unter »Xy« verbirgt. Die wissenschaftliche Archäologie – die nie ohne Grabungsplan arbeitet, einen jeden Fund, Bruchstücke des Griffs eines Messers etwa, exakt (auf x- und y-Achse) verzeichnet, ehe sie die nächste Schicht abträgt – hat Freud und seiner Lektüre wieder einmal ein Vorbild fixiert.

 

Letzter Grund – ich gehe der Reihe nach – von besagtem französischsprachigen Einschub scheint Émile Zolas Germinal von 1885 zu sein, jene Stelle des Romans, genauer, da eine der Figuren, der heranwachsende Jeanlin, eine andere, die jüngere Lydie, zu seiner »petite femme« (zu »sein[em] Frauchen«, wie es in der Übersetzung durch Armin Schwarz heißen wird) machtii: »ils« – Jeanlin und Lydie, die Teilnehmer des (Macht)Spiels, das männliche Pronomen –

 

»essayaient ensemble […] l’amour qu’ils entendaient et qu’ils voyaient chez eux, derrière les cloisons, par les fentes des portes. Ils savaient tout, mais ils ne pouvaient guère, trop jeunes, tâtonnant, jouant, pendant des heures, à des jeux de petits chiens vicieux. Lui appelait ça ›faire papa et maman‹; et, quand il l’emmenait, elle galopait, elle se laissait prendre avec le tremblement délicieux de l’instinct, souvent fâchée, mais cédant toujours dans l’attente de quelque chose qui ne venait point.«iii

 

»Sie versuchten […] die Liebe, die sie zu Hause hinter den dünnen Wänden und zwischen den Türritzen sahen und hörten. Sie wußten alles, aber sie konnten noch nicht, denn sie waren zu jung und tasteten daher nur und spielten stundenlang wie lasterhafte junge Hunde. Er nannte dies ›Vater und Mutter spielen‹, und wenn er sie hinwegführte, lief sie mit ihm, und ließ ihn gewähren, mit dem köstlichen Schauer des Instinkts, oft verletzt, aber immer wieder nachgebend, in Erwartung irgendeiner Sache, die nicht kam.«iv

 

An dem Punkt eine Zwischenbemerkung: Insofern es diese Szene ist, die Freuds Notiz in Anspruch nimmt, geht es, das Zitieren, vielleicht tiefer. So ruft die Passage, die im fünften Kapitel des zweiten Teils von Germinal zu finden ist, nämlich – spielerisch? ihnen Folge leistend? kritisch davon sich abgrenzend? – Überlegungen auf den Plan, die Jean-Jacques Rousseau im fünften Buch seines Bildungsromans Émile – Zola bekannt? – über den Unterschied der Geschlechter und, insbesondere, über die der Frau unterstellt eigentümliche Schamhaftigkeit, »honte«, anstellt. Letzterer Grund scheint Rousseaus Text nicht im Biologischen ausfindig machen zu wollen:

 

»Si les femelles des animaux [Hündinnen etwa, PPH] n’ont pas la même honte, que s’ensuit-il? Ont-elles [gemeint: die femelles], comme les femmes, les désirs illimités auxquels cette honte sert de frein? Le désir ne vient pour elles [gemeint: die femelles, immer noch, doch das weibliche Pronomen meint je länger je mehr noch anderes] qu’avec le besoin; le besoin satisfait, le désir cesse; […] l’instinct les pousse et l’instinct les arrête. Où sera le supplément de cet instinct négatif dans les femmes, quand vous leur aurez ôté la pudeur? Attendre qu’elles ne se soucient plus des hommes, c’est attendre qu’ils ne soient plus bons à rien.«v

 

»Wenn die Tierweibchen nicht die gleiche Scham empfinden, was folgt daraus? Haben sie die gleichen unbegrenzten Begierden wie die Frauen, denen die Scham als Zügel dient? Der Trieb entsteht bei ihnen nur aus dem Bedürfnis. Ist das Bedürfnis befriedigt, hört der Trieb auf. […] Der Instinkt treibt sie und der Instinkt hält sie zurück. Womit sollten die Frauen diesen negativen Instinkt ersetzen, wenn man ihnen das Schamgefühl nähme? Warten, bis sie sich nichts mehr aus Männern machen, hieße warten, bis sie [diese Zweideutigkeit ist dem Rousseau’schen Original fremd, PPH] zu nichts mehr nütze sind.«vi

 

Und in gleichem Maße wie diese Sätze aus dem Émile – und die auf sie folgenden monströsen, die sexuelle Gewalt an Frauen schönreden, davon reden, dass von sexueller ›Gewalt‹ an einer Frau (die den »homme«, »[s]oit donc qu[’elle] partage ou non ses désirs et veuille ou non les satisfaire«, »repousse et se défend toujours«vii [»ob nun die Frau das Verlangen des Mannes teilt oder nicht und es befriedigen will oder nicht, sie stößt ihn immer zurück und verteidigt sich«])viii durch einen Mann (der also nie wissen kann, »si c’est la faiblesse qui cède à la force, ou si c’est la volonté qui se rend«ix [»ob die Schwäche der Kraft gewichen ist oder ob sich der Wille ergeben hat«])x mit Gewissheit gar nie gesprochen werden könne (»la ruse ordinaire de la femme est de laisser toujours ce doute entre elle et lui«xi [»die gewöhnliche List der Frauen ist, diesen Zweifel immer zwischen sich und ihm bestehen zu lassen«],xii ist, ein ›Nein‹ so auszudrücken, dass sich der »homme«, in Anlehnung an Freud gesprochen, stets »die Freiheit [nehmen kann], bei der Deutung von der Verneinung abzusehen«)xiii – jenen in Germinal ein Vorbild, zumindest einen Bezugspunkt fixiert haben, hat Zolas Namenwahl sein Vorbild im -namen Rousseaus.xiv Ihm schneidet sie, wie zur Strafe, etwas ab, verbindet ihn und lässt ihn, statt Jean-Jacques nun -lin, das fehlende Stück in Leinen gehüllt und als Mahnmal an die unsägliche Operation dem Verletzten in die Hände gelegt, als kindliches Hänschen zurück: Was es, im Umgang mit Lydie, nicht lernt, lernt Jean-Jacques, in der philosophischen Behandlung der »femmes« überhaupt, nimmermehr.

 

Zurück zu Freud – zu dessen Bezugnahme auf Zola zu bemerken ist, dass sie nicht nur keine Namen nennt, weder den des Autors noch die seiner Kinder, sondern auch entscheidendes Inhaltliches ungesagt lässt: So unterschlägt Freud denn gänzlich den Übergriff an der Szene, übergeht stillschweigend jenen Fächer von Gefühlen (Abneigung, Widerstand, Zorn und vielleicht andere) Lydies, der bei Zola – doch da eben nicht ohne Spuren zu hinterlassen, geräuschvoll sozusagen – zugeklappt und in einem Fach, einer sprachlichen Tasche, »fachée«, verstaut wird.xv (Die missbräuchliche Dimension der Szene tritt im Gesamtkontext von Germinal übrigens noch deutlicher hervor, ist nämlich Teil einer ganzen Reihe von Erfahrungen Lydies von äußerer Gewalt bzw. äußerem Zwang, die Zola selbst – in seinen persönlichen stichwortartigen Notizen zum Roman – die Figur zusammenfassen-charakterisieren lässt wie folgt: »Une révoltée, par les coups et le manque de tendresse. Haine au cœur contre ceux qui la font souffrir. Souffre douleur un peu tragique. Poussée au vol« – Zola meint hier wohl [denn dieser spielt in der Romanhandlung eine zentrale Rolle] den Diebstahl im engeren Sinne, das Wort ›vol‹ meint, wie der deutsche ›Raub‹, aber auch noch anderes, ist im Französischen nur durch einen Buchstaben, ›i‹, davon getrennt – »par Jenlain [sic], et mentant ensuite et devenant mauvaise.«xvi [»Eine Aufständische, durch Schläge und Mangel an Zärtlichkeit. Hass im Herzen gegen jene, die sie leiden machen. Leidet einen etwas tragischen Schmerz. Zum Diebstahl gedrängt durch Jenlain, so dann zur Lügnerin und schlecht geworden.«] Das, ihr Gewaltsames, wäre denn also die tiefere Pointe der Szene in Germinal.) Und tiefer, als Freuds Text zu hören bereit scheint, geht denn auch Zolas Wendung »attente de quelque chose qui ne venait point«, die – tatsächlich hat das »›faire papa et maman‹« in Germinal einen Zeugen, wird beobachtet von einem dritten Kind, das Bébert heißt – nicht zuletzt, ja, vor allem anderen auf Hilfe hinauswill. Zolas Text, dem und dessen Pointen Freud also Gewalt antut,xvii muss es sich gefallen lassen. Denn er ist Zolas Text. Denn was ist ein ›Text‹, wenn nicht, mit Platon – der Reden mit »Kinderchen«xviii (und, gleich wie Freud, der an einer anderen Stelle, die der Schreibhemmung gewidmet ist, dem »Schreiben, das darin besteht, aus einem Rohr Flüssigkeit auf ein Stück weißes Papier fließen zu lassen«,xix die »symbolische Bedeutung des Koitus«xx abliest, das Schreiben, das Wörter »mit Tinte sie durch das Rohr aussäend [σπείρων / speiron]«xxi in die Welt setzt, mit dem Zeugungsakt) vergleicht – gesprochen, eine »Rede«, die »geschrieben« ist und so denn »überall«, »gleichermaßen unter denen umher[schweift], die sie verstehen, und unter denen, für die sie sich nicht gehört«?xxii Sie »bedarf […] immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen.«xxiii

 

Freud – ich komme zum zweiten Punkt – ist auch ein Vater. Schreibender, dessen Sprösslinge sich nicht zu wehren vermögen. Wesentlich nicht, wenn es nach Platon geht, und insbesondere nicht, im Falle Freuds, gegenüber den Schneidwerkzeugen der Zensor*in: Anstelle des »Xy« der in den Gesammelten Werken abgedruckten Fassung ist im Originalmanuskript von Freuds Notiz etwas anderes, nämlich ein Name zu lesen.xxiv (Hat Freud, seine Hand solchen Eingriff ins Gewebe antizipiert? Die weitausladenden Klammerstriche von Freuds Manuskript enthalten nicht nur besagten [zensierten] Namen, sondern schneiden, da sie um eine saubere Trennung der Zeilen sich nicht scheren, Klingen gleich aus der darunterliegenden Zeile, wo »infantile Sexualität« steht, »[]tile Sex[]« heraus; nehmen, anders, in sich etwas auf, das an ›Textiles‹ erinnert in der Verkleidung eines Anagramms.) Dieser Name ist »Anna«.xxv Dieser Name lässt denken: an eine Analysandin, an Verwandte Freuds und vielleicht an Andere. Die Analysandin, die »Anna« mitmeint, heißt eigentlich Bertha Pappenheim und begegnet – durch Schritte zurück im Alphabet (von B zu A, P zu O) in ›Anna O.‹, Pseudonym und -anagramm von ›Onanie‹, verwandelt – in Freuds gemeinsam mit Josef Breuer erarbeiteten Studien über Hysterie von 1895, wo – wie dann später in Freuds Notiz von 1938 mit ihren »Aequivalenten auf anderen Gebieten, Absencen, Ausbrüchen von Lachen, Weinen (Xy)«, in welcher Anna O. namentlich an- bzw. eben (zensiert, noch einmal) abwesend ist – »Absencen« – das Wort begegnet in dem Anna O. gewidmeten Teil der Studien über zwanzigmal – eine wichtige Rolle spielen. (»Es war«, um hier nur eine zu nennen, »immer vorgekommen, dass [die] Patientin nicht hörte, wenn man sie ansprach« – auch dann nicht, wenn sie »allein, direct angesprochen« wurde, was gemäß den Autoren seinen letzten Grund in der Kindheit, seinen »Ursprung« in einer Situation hat, da »der Vater vergebens sie um Wein angesprochen« hatte.xxvi Wie Freud rückblickend schreiben wird, sind die von Breuer an Pappenheim gewonnen Erkenntnisse »noch heute die Grundlage der psychoanalytischen Therapie«,xxvii Grundlage einer Form von Therapie, die man also nicht zu unrecht eine Psychoannalyse hieße.) Die Verwandten Freuds, die Anna heißen, sind seine zwei Jahre jüngere Schwester und deren Nichte, Freuds jüngstes Kind, das 1895 – in dem Jahr also, da Sigmund und Josef Bertha Anna tauften – geboren worden war. Hatte Letztere, Anna Freud, die Tochter, die die Hauptherausgeberin von Freuds Nachgelassenen Schriften und so unseren Sätzen von 1938 sein wird, ihren Anteil daran, dass der geteilte Name gestrichen wurde, aber eben doch nicht ganz – ein neuer Name, ein Pseudonym statt des kryptischen »Xy« (das also mit dem wütenden Klopfen jenes verräterischen Herzens unter dem Dielenboden Edgar Allan Poes, wie es wohl auch bei jener stillen »[h]aine au cœur« Lydies Zolas mitzuberücksichtigen wäre, zu vergleichen wäre, gleichsam als ein Pochen zu hören wäre) wäre, wäre das die Intention gewesen, eine sicherere falsche Fährte gewesen – zum Schweigen gebracht wurde? Worauf die versäumte Übernahme von »Anna« in die gedruckte Fassung zurückgeht, darüber lässt sich nur spekulieren. Aber was auch immer der letzte Grund sein mag: Der Einschnitt in Freuds Notiz geht tiefer, geht nicht »Anna« allein, sondern alle an. In einem Wort: Der Name »Anna« – der zurückgeht auf das hebräische חנן [ẖnn], also, als Wort statt Name genommen, davon spricht, jemandem gegenüber ›gnädig zu sein‹ – ist Metonymie. Er steht, da er wegfällt, ein für den einer jeden Leser*in Freuds, die seinen Ansichten nicht mit Wohlwollen begegnet, mit seinen Texten – sei es aus begründeten theoretischen Zweifeln, sei es aus jenem persönlichen Widerstand, der gemäß Freud nur Ausdruck einer narzisstischen Kränkung (und, unwissentlich bzw. -gewollt, gerade so Beweis für die Stichhaltigkeit der Psychoanalyse) istxxviii – nichts zu schaffen haben will. In einem anderen Wort: Die Absenz von »Anna« – deren hebräische Wurzel im Französischen ein Antonym hat in jenem von Freud übergangenen Wort »fachée« – lässt an Rache denken. Denn »Anna« (pro toto, Initiantin einer Sammelklage gleichsam) widersetzt sich nicht nur schweigend (ihrer Vereinnahmung durch die Psychoanalyse, jenem »Diebstahl« seines »wertvollen« Namens, der vom »Mädchen verlangt, sich zu entblößen« vor der ganzen lesenden Welt),xxix sondern reagiert (»[w]ir verstehen hier« mit Breuer und Freud »unter Reaction eine ganze Reihe willkürlicher und unwillkürlicher Reflexe […]: vom Weinen bis zum Racheact«)xxx bzw. schlägt zurück, beraubt nämlich, da sie ihren Konsens entzieht, Freuds Betrachtungen, wenn nicht jedweden Sinns, so doch deren einzigen und nun also ganz fehlenden Stücks Anschaulichkeit, ihres letzten Grunds im Empirischen. Erfahrungs- da namenlos, augenfällig gebrandmarkt durch ein »Xy« für seine schamlose Aneignung des fremden Eigentums bzw. -namens wie ein mittelalterlicher Lang- durch seine (gewaltsam verkürzten) Finger, geht Freuds Nachdenken über den »[l]etzte[n] Grund aller intellektuellen und Arbeitshemmungen« so denn ohne Hand und Fuß, verstohlen und (über sich selbst, eine eigene Klammer) stolpernd durch die Straßen der Wissensgeschichte, in ihre Annalen ein als das, womit es angefangen hat und nun bis zum Ende und im Ganzen bleiben muss: eine unter anderen möglichen Annahmen. (Diesen Namen, ›Annahmen‹, hat die Geschichte ihnen gegeben und andere vorenthalten, weil ihre Natur es an sich hat, dass immer etwas zur befriedigenden Erklärung nach dem Vorbild der tradierten Wissenschaften fehlt.)

 

 

i Freud, Sigmund: Ergebnisse, Ideen, Probleme, in: ders.: Gesammelte Werke 17, Hg.: Freud, Anna et al., London 1941, Imago Publishing Co., S. 149–152, hier: S. 152

ii Auf diese intertextuelle Dimension von Freuds Notiz bin ich aufmerksam geworden durch – und folge bei ihrer Lektüre wesentlich und dankbar – Aaron Lahl.

iii Zola, Émile: Germinal, in: ders.: Œuvres complètes 13, Hg.: Becker, Colette, Paris 2017, Classique Garnier, S. 217

iv Zola, Émile: Germinal, Übers.: Schwarz, A., Stuttgart 1974, Reclam, S. 146f.

v Rousseau, Jean-Jacques: Émile ou de l’éducation (Suite), in: ders.: Œuvres complètes 8, Hg.: Trousson, Raymond; Eigeldinger, Frédéric S., Genf 2012, Éditions Slatkine, S. 1–1023, hier: S. 827

vi Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder Über die Erziehung, Übers.: Schmidts, L., Paderborn 1971, Ferdinand Schöningh, S. 387

vii Rousseau, Émile [Fr.], S. 827

viii Rousseau, Emil [Dt.], S. 387f.

ix Rousseau, Émile [Fr.], S. 828

x Rousseau, Emil [Dt.], S. 388

xi Rousseau, Émile [Fr.], S. 828

xii Rousseau, Emil [Dt.], S. 388

xiii Freud, Sigmund: Die Verneinung, in: ders.: Studienausgabe 3, Hg.: Mitscherlich, Alexander et al., Frankfurt am Main 1972, S. Fischer, S. 371–377, hier: S. 373

xiv Zu Zolas (reflektierter, revidierter) Namenwahl vgl. Marel, Henri: Onomastique et création dans »Germinal«, in: Revue d’Histoire littéraire de la France, 1985, 85. Jg., Heft 3, S. 401–411, hier: S. 404: »Zola écrira le prénom ›Jenlain‹ de cette façon dans L’Ébauche et les Personnages. Dans les Plans, il hésitera entre Jenlain et Jeanlin pour aboutir dans le roman [gemeint: Germinal] à Jeanlin. Le nom semble lui avoir été inspiré par le village de Jenlain, proche de Valenciennes, dont il pouvait voir le nom dans Valenciennes, car on y fabriquait une excellente bière (Dans Mes Notes sur Anzin, notre auteur écrira: ›Au petit Jenlain‹). Tout ceci ne peut être pure coïncidence. Si on accepte ma version, on voit apparaître l’art du romancier: le déplacement d’une lettre, le a, donne vraisemblance au prénom pour tout lecteur français« – insbesondere eben, wenn man auch meine Version akzeptiert, für Leser*innen Jean-Jacques Rousseaus.

xv Was ich hier (und später) im Wort »fachée« höre, würde ich nicht hören ohne die (einem Aphorismus Friedrich Nietzsches, Elemente der Rache, im zweiten Teil von Menschliches, Allzumenschliches gewidmeten) Seiten in: Schestag, Thomas: Mantisrelikte, Basel 1999, Urs Engeler, S. 7–16.

xvi Zola, Germinal [Fr.], S. 217, Anm. 59

xvii Gewalt übrigens auch wortwörtlich: So erinnert Freud (dessen am fremden Textkörper also nur sehr bedingt interessierte Lektüre ›masturbatorisch‹ genannt werden könnte) »dans l’attente« als »en attendant« (worin seine eigene »Onanie« anklingt). Vgl. dazu auch den Beitrag von Aaron Lahl, der auf die »Nähe des ›attente‹ zum ›Attentat‹« hinweist und darauf, dass Freud »im Rahmen seiner Verführungstheorie Übergriffe durch Erwachsene, aber auch durch ältere Kinder« als »Attentate« bezeichnet. Vgl. Lahl, Aaron: En attendant toujours..., in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse, 2023, Heft 99, S. 40–44, hier S. 43

xviii Platon: Phaidros, in: ders.: Werke in acht Bänden 5, Hg.: Eigler, Gunther, Übers.: Schleiermacher, F.; Kurz, D., Darmstadt 1983, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 1–193, hier: S. 127 [= 261a]

xix Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst, in: ders.: Studienausgabe 6, Hg.: Mitscherlich, Alexander et al., Frankfurt am Main 2006, S. Fischer, S. 227–308, hier: S. 235

xx Ebd.

xxi Platon, Phaidros, S. 183 [= 276c]

xxii Ebd., S. 181 [= 275e]

xxiii Ebd.

xxiv Die handschriftliche Fassung von Freuds Notiz von 1938 ist online einsehbar unter: https://www.loc.gov/resource/mss39990.OV1313/?sp=3&st=image [05.03.2023]. Für diesen – für die vorliegenden Überlegungen entscheidenden – Hinweis bedanke ich mich herzlich bei Aaron Lahl.

xxv Ebd.

xxvi Breuer, Josef; Freud, Sigmund: Studien über Hysterie, Leipzig, Wien, 1985, Franz Deuticke, S. 28

xxvii Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916–17 [1915–17]), in: ders.: Studienausgabe 1, Hg.: Mitscherlich, Alexander et al., Frankfurt am Main 2007, S. Fischer, S. 33–445, hier: S. 279

xxviii Vgl. Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: ders.: Gesammelte Werke 12, Hg.: Freud, Anna et al., London 1947, Imago Publishing Co., S. 3–12

xxix Freud, Sigmund: Psychische Behandlung (Seelenbehandlung), in: ders.: Studienausgabe: Ergänzungsband, Hg.: Mitscherlich, Alexander et al., Frankfurt am Main 1982, S. Fischer, S. 13–34, hier S. 34

xxx Breuer; Freud, Studien, S. 5

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