top of page
  • Instagram
  • Black Facebook Icon

RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse #99 (2023) – Rezensionen

 

Stephan Engelhardt: Szene des Begehrens – Das Kunstwerk als intersubjektiver Spielraum libidinöser Projektionen, Gießen 2021, Psychosozial-Verlag
rezensiert von Niclas O‘Donnokoé

​

Download PDF

 

 

Zugegebenermaßen musste sich der Rezensent durchringen, die metatheoretische Setzung des vorliegenden Werkes von Stephan Engelhardt zu akzeptieren. Beobachten lässt sich eine Art Potenz-Diskurs, in dem überlieferte psychoanalytische Konzepte als omnipotente Aufschlüsselungs-instrumente für kanonische Kunstwerke der gesamten Menschheitsgeschichte genutzt werden. Interessant wird es, wenn die besprochene Kunst durch das Auftreten von Dekonstruktion und Performativität den Zugang des Buchs mit theoretisch nicht Einholbarem konfrontiert und so unterläuft. Das Ganze muss in einer Verfallsdiagnose mit der Postmoderne als Sündenbock enden. Doch der Reihe nach.

 

Die titelgebende »Szene des Begehrens« – lose an Lorenzers Konzept des szenischen Verstehens angelehnt – ist das theoretische Bild, das Engelhardts Parcours durch die Kunstgeschichte zusammenhalten soll. Er betrachtet den »künstlerischen Prozess als einen kreativen Vorgang […], der verinnerlichte Beziehungserfahrungen aktiviert« (S. 126). So bildet sich zwischen dem produzierenden Subjekt, dessen unbewusstem Begehren und dem containenden Kunstwerk eine triangulierte Szene. Das Kunstwerk wird als »Dokument des Triebschicksals« (S. 24) der Künstler*in verstanden. Dieses kann dann eine neue Szene (z.B. im Museum) für das rezipierende Subjekt ermöglichen. In dem durch das Kunstwerk bereitgestellten »intermediären Raum« kann das rezipierende Subjekt ebenfalls zu einer triangulierenden Beziehungserfahrung gelangen und beim Betrachten zwischen verschiedenen Szenen oszillieren: So ist beispielsweise die Beziehung der im Bild dargestellten Elemente zueinander ebenso von Bedeutung wie die sich einstellende Szene vor dem Kunstwerk, in der das rezipierende Subjekt durch projektive und identifikatorische Prozesse mit dem Werk in Beziehung tritt.

 

Engelhardts Buch besteht neben dieser Metaperspektive vor allem aus unzähligen Analysen konkreter Kunstwerke der kanonischen Kunstgeschichte – vom alten Ägypten über Caravaggio bis Duchamp und Abramović. Da subjektive Gegenübertragungsschilderungen fehlen, interessiert sich Engelhardt weniger für die von ihm beschriebene Szene vor dem Kunstwerk. Stattdessen ist das Ziel des schreibenden Psychoanalytikers die Rekonstruktion der Künstler*innenpsyche.

 

»Der Autor des Textes nimmt eine therapeutische Position ein und betrachtet das Kunstwerk wie einen Traum, wie eine Assoziation, wie eine Imagination als originäres Dokument eines innerpsychischen Geschehens einer anderen Person in einer historisch gewachsenen, sozioökonomischen und kulturellen Situation.« (S. 52)

 

Das Kunstwerk wird als (pathologisches) Symptom verstanden, als Produkt verschiedener Abwehrmechanismen, die die »primären Affekte einer Verdichtung, Verschiebung, Kompromissbildung, Überformung und schließlich einer Symbolbildung« (S. 321) zuführen. Im Prozess der Kunstanalyse soll dann die »der gegenwärtigen Szene zugrunde liegende […] ursächliche Szene« (S. 43) gefunden werden. Die noch unbewussten Inhalte sollen dann in einem »Prozess der Mentalisierung« (S. 19) und Verbalisierung herausgearbeitet werden. Die Haltung des Kunstbetrachtenden ist von derjenigen der Analytiker*in nicht zu trennen.

 

Besonders bei den Künstlern der Renaissance wird Engelhardt zum psychoanalytischen Diagnostiker. So werden beispielsweise Hieronymus Boschs Höllengemälde mit Sigmund Freud als regressives Wiedererleben der fantasierten Urszene verstanden, mit Melanie Klein als sadistische Fantasien von aggressiven Selbstanteilen und verfolgenden Objekten oder mit Bion als »bizarre Objekte« und nicht verarbeitete Beta-Elemente. Raffaels berühmte Madonnenbildnisse werden als symbolische Konservierung der idealisierten, präödipalen Mutter durchdekliniert. Die gewaltsam-triumphalen Szenen auf Caravaggios Gemälden dienen Engelhardt für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung auf Borderline-Niveau mitsamt Abwehr der Identifikation mit dem Aggressor, den Engelhardt im frühen, cholerischen Vater des Künstlers findet.

 

Wie zu sehen ist, ist Engelhardts Studie zunächst ein interessantes Phänomen des psychoanalytischen Schulenpluralismus. Konzepte der unterschiedlichsten Denkschulen werden in einem Atemzug verwendet. Freud, Reich, Klein, Bion, Winnicott, Lacan, Laplanche, Mitscherlich, Lorenzer, Kernberg, Kohut, Fonagy, Ogden: Alle und noch einige mehr sind Teil von Engelhardts theoretischem Werkzeugkoffer. Jedoch stehen die einzelnen Perspektiven häufig unverbunden nebeneinander, anstatt ein schlüssiges Gesamtbild zu ergeben. Die Kunstphänomene werden von allen Seiten (auch von Philosophie, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Kunsttheorie und den biografischen Fakten der Künstlerpersönlichkeiten) um-stellt und mitunter ver-stellt. Das inhaltliche Durcheinander spiegelt sich auch in der Überschriftenstruktur, deren Ordnung sich dem Rezensenten nicht immer erschließt und teils inhaltlich fehlerhaft wirkt. So kommt es vor, dass Begriffe oder Namen, die in einer Überschrift genannt werden, gar nicht im dazugehörigen Text aufgegriffen werden (z.B. Kapitel II.1.5.3 auf S. 247 oder Kapitel III.2.7 auf S. 468). Dadurch wirkt das Buch wie ein unfertiger Zettelkasten. Das ist nicht immer schlecht: Wird das Werk als lexikalische Materialsammlung interdisziplinärer Zugänge verstanden, deren Synthese und weiterführende Analyse noch zu leisten ist, lässt sich einiges an inspirativen Erkenntnissen finden. Die Fülle an vorliegendem Material ist durchaus beeindruckend.

 

Das größere Problem des Projekts ist, dass Engelhardt bei seiner Suche nach Bedeutung ausschließlich auf bereits Bekanntes stößt, nämlich auf etablierte psychoanalytische Konzepte, als würde er vor sich selbst Ostereier verstecken, die er dann anschließend finden kann. Engelhardt versucht vorzuführen, dass die Psychoanalyse wirklich alles erklären kann – selbst wenn es sich um Jahrtausende alte Reliquien handelt. Eines der ersten datierten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte aus dem marokkanischen Tan-Tan (ein in Menschengestalt geformter Sandstein) wird mit Kohut als die Wiederherstellung eines verlorenen idealisierten Selbstobjekts gedeutet, das die Selbstkohärenz sichern soll. Daraufhin wird die berühmte Kalksteinfigur Venus von Willendorf, etwa 25.000 vor Christus entstanden, mithilfe von Winnicott als Übergangsobjekt gedeutet, das sadistische Impulse gegen das mütterliche Primärobjekt integriert. In verschiedenen ägyptischen Mythen werden dann ödipale Szenen (Freud), die Unmöglichkeit das Objekt des Begehrens zu besitzen (Lacan) und Wiederherstellungen des verlorenen Objekts (Klein) gefunden.

 

Sicher ist es faszinierend, der geschichtlichen Kontinuität psychoanalytischer Strukturen und Konzepte nachzuspüren. Die selbstverständliche Gewissheit der Geste, mit der die Deutungen vorgenommen werden, hintergeht dabei aber nicht nur den psychoanalytischen Impetus eines Denkens, das sich ständig irritieren und unterlaufen lässt, um weiterzukommen. Vielmehr übergeht Engelhardt die methodischen Erkenntnisse, die in den letzten Jahrzehnten von der Ethnologie (auch der Ethnopsychoanalyse) und dem Postkolonialismus bezüglich des Umgangs mit dem Anderen gemacht wurden. Simpel zu verstehen, aber schwierig ins Denken zu integrieren, ist die Erkenntnis, dass wir beim Blick in die Fremde vor allem das Eigene sehen. Es erfordert langes, reflektierendes Durcharbeiten, die dialektische Verwobenheit der eigenen Projektionen mit dem Anderen des Untersuchungsgegenstandes sichtbar zu machen. Dass dies für die gesamte Kunstgeschichte durch einen einzigen Mann gelingen soll, zeigt leider vor allem die Hybris, der sich psychoanalytische Kulturtheorie nicht selten schuldig macht. Durch die Kürze, in der die Analysen jahrtausendealter Reliquien vorgenommen werden, bleiben die Deutungsangebote thesenhaft und wenig überzeugend. Die Lücken zwischen der vergangenen Erfahrung beim Entstehen des Kunstwerks, der sinnlichen Eindrücke bei der gegenwärtigen Betrachtung und zuletzt den theoretischen Konzepten, die beides sichtbar machen, werden in Engelhardts Denken zugunsten der Letzteren geschlossen. Dabei ist die Reflexion der Nachträglichkeit und Fiktionalität (psychoanalytischen) Theoretisierens eine lohnende Herausforderung, deren Reflexionsschleifen spätestens mit Freuds Schwierigkeiten bei der zeitlichen Verortung der Urszene des sogenannten »Wolfsmannes« begannen.

 

Je mehr sich der Zeitstrahl der vorgeführten Geschichte in die Moderne hineinbewegt, desto stärker verändert sich die Leseerfahrung, da die geistigen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts die Entstehungsbedingungen für die Psychoanalyse liefern und sich das Werk so einer Selbstreflexion seiner Methodik zumindest annähert. Den historisch-geistigen Kontext der Moderne beschreibt Engelhardt als zunehmende Zentrierung auf subjektive Autonomie durch den entstehenden Individualismus, der jedoch das Andere des Subjekts mitproduziert. Ausführlich werden dabei immer wieder die Nähe und Differenz der Psychoanalyse zur philosophischen Tradition (vor allem Nietzsches Denken) und den aufkeimenden modernen Kunstformen gezeigt. Bei Letzteren nimmt vor allem der Surrealismus und dessen Versuch, sich durch traumartige, automatische Prozesse einem künstlerischen Subjekt jenseits des rationalen Bewusstseins anzunähern, eine zentrale Stellung ein.

 

Dann geschieht dem Buch etwas ebenso Eigenartiges wie Notwendiges: Die besprochene Kunst überholt die psychoanalytische Reflexion. Im großen Kapitel über den abstrakten Expressionismus und die Avantgarde nach 1945, die schließlich in die Performance-Kunst führen wird, wirken die immer seltener werdenden biografischen Erklärungsmodelle und die daraus abgeleiteten Diagnosen nur noch pflichtbewusst und anekdotisch. Stattdessen wird sich stärker an der Philosophie (z.B. Sartres als Ekstase des bewussten Handelns verstandener Existenzialismus) oder der Theaterwissenschaft (Ko-Präsenz, Feedbackschleifen, verkörpertes Gedächtnis) bedient. Auch sind die Kunstakteure mittlerweile psychoanalytisch geschult und kommen selbst zu Wort. So beschreiben die Künstler des Wiener Aktionskreises um Hermann Nitsch und Otto Muehl ihre blutigen, sakralen Aktionen als ekstatische Entladungen blockierter Affekte traumatischer Situationen und als Befreiung perverser Partialtriebe.

 

Der Diskurs der Psychoanalyse scheint vom Diskurs der Kunst angeeignet und in eine soziale Praxis überführt worden zu sein, die selbst noch mehr vermag: Durch die ausgestellte Selbstreferenzialität und die Infragestellung der Abgrenzbarkeit von Kunst und Nicht-Kunst werden theoretische und soziale Rahmungen als solche sichtbar und kontingent. Engelhardts Beschreibungen der Happenings und die Zitierungen von Wissenschaftler*innen sowie der Künstler*innen selbst vermitteln ein zwar lose zusammenhängendes, aber eindrückliches Verständnis für die Neuheit und Intensität der künstlerischen Entwicklungen in der Nachkriegszeit. Nur gelegentlich fällt Engelhardt in seinen biografischen Reduktionismus zurück. So symbolisiere der tote Hase, den Joseph Beuys in einer Performance liebevoll durch seine Ausführung führte, ein beschädigtes Selbstobjekt, das den traumatischen Kern (seiner Kriegserfahrungen, die sich mit der frühen Kastrationsangst verbanden) imaginär umhülle und dadurch verortbar mache (S. 428). Diese Deutung ist zwar schlüssig, verdeckt jedoch entscheidende Aspekte der Kunst. Die schamanistische Mythologie, der Natursymbolismus und der erweiterte Kunstbegriff, der Beuys die Gesellschaft als »soziale Plastik« denken ließ, wären diejenigen Elemente, die eine Subjekttheorie wirklich herausfordern und zu einer neuen Perspektivierung führen könnten.

 

Die Radikalität der Epoche spiegelt sich schließlich in der Theorieproduktion der sogenannten Postmoderne. Mit welchen Herausforderungen die dekonstruktivistischen Denkformen Engelhardts eigenen Ansatz konfrontieren wird deutlich, wenn Roland Barthes mit einem Vorwurf zitiert wird, der die vorherigen knapp 400 Seiten von Engelhardts Buch zusammenfasst: »Daher die vielen unsinnigen Fragen, die der Kritiker an den toten Schriftsteller richtet, an sein Leben, an die Spuren seiner Absichten […]. Man will um jeden Preis den Toten zum Sprechen bringen – oder seine Substitute: seine Epoche, die Gattung, den Wortschatz, kurz alles, was für den Autor zeitgenössisch war« (S. 366). Die Selbstständigkeit, die poststrukturalistische Theoretiker*innen sozialer Materie zugestehen, ob sie sie als Diskurs, Macht oder Kunst bezeichnen, sollte eigentlich an die von der Psychoanalyse geleistete Dezentrierung des Subjekts anschlussfähig sein. Dazu müsste sich diese ihrer eigenen dekonstruktivistischen Form bewusst sein. Engelhardt hingegen gehen die Poststrukturalisten zu weit: Foucaults und Barthes Dekonstruktion sei ein »Missverständnis« (S. 367), das die Befragung des Subjekts unmöglich mache. An dieser Stelle greift Engelhardt das erste Mal wertend ein: Die Postmoderne führe zu einer Dissoziation, also zu haufenweise Material, ohne dass durch Assoziation neue Deutungen vorgenommen werden. Engelhardts Text durchzieht so stellenweise eine Verfallsthese, die vor dem »Sperrfeuer des desymbolisierten Klischees« (S. 469), vor nicht mehr symbolisch kontrollierbaren Hyperrealitäten der Codes und singulärem Spektakelkult warnt. Leider schafft er es nicht, der Dekonstruktion auf der Ebene der Subjektkonstitution zu begegnen. Er könnte die postmodernen Vorstellungen ja durchaus tiefenpsychologisch kritisieren, zum Beispiel als omnipotente Fantasien, um dann deren Rückwirkung auf die soziale Konstruiertheit der historischen Subjekte zu untersuchen. Stattdessen kritisiert Engelhardt die Dekonstruktion von außen mit einer vulgären Kapitalismuskritik, die eine hypermoderne Beziehungs- und Subjektlosigkeit ankreidet. In jenen Passagen erscheint Engelhardts Argumentation als nostalgische Sehnsucht nach den Leinwand-Subjekten der Renaissance, in der die patriarchal-ödipale Ordnung durch Kirche und Staat garantiert war. Und die Deutungen noch leicht fielen.

bottom of page