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RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse #99 (2023)

 

En attendant toujours ...
Elemente der Onanie in einem späten Freud-Fragment
von Aaron Lahl

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Im Folgenden möchte ich eine Notiz Sigmund Freuds vom 3. August 1938 zum Ausgangspunkt für einige Überlegungen zur Onanie in der Psychoanalyse nehmen.

 

»Letzter Grund aller intellektuellen und Arbeitshemmungen scheint die Hemmung der kindlichen Onanie zu sein. Aber vielleicht geht es tiefer, nicht deren Hemmung durch äussere Einflüsse, sondern deren unbefriedigende Natur an sich. Es fehlt immer etwas zur vollen Entlastung und Befriedigung — en attendant toujours quelque chose qui ne venait point — und dieses fehlende Stück, die Reaktion des Orgasmus, äussert sich in Aequivalenten auf anderen Gebieten, Absencen, Ausbrüchen von Lachen, Weinen (Xy), und vielleicht anderem. — Die infantile Sexualität hat hier wieder einmal ein Vorbild fixiert.«ii

 

Ich konzentriere mich zunächst auf den Ausdruck »en attendant toujours quelque chose qui ne venait point«, der sich übersetzen lässt mit: »stets auf eine Sache wartend, die nicht kam«. Ich bin auf einige Spuren dieses Satzes gestoßen, denen ich hier nachgehen möchte. Dabei werde ich mich zuweilen mehr auf die Biografie Freuds beziehen, aber versuchen, das eigentliche Thema der Onanie im Auge zu behalten. Nach drei Anläufen in Bezug auf das »en attendant toujours...« möchte ich in einem letzten Schritt auf den im Zitat angesprochenen Zusammenhang zwischen der Onanie und dem Symptom der intellektuellen und Arbeitshemmung zurückkommen.

 

I.

 

Der Ausdruck »en attendant toujours quelque chose qui ne venait point« stammt aus Émile Zolas 1885 veröffentlichtem Arbeiterroman Germinaliii, den Freud mutmaßlich während seines Parisaufenthaltes (1885/86) gelesen hat, um sein Französisch aufzubessern. Germinal ist eine Milieustudie über das Leben von Bergwerksarbeitern, mit denen der Autor in Vorbereitung auf den Roman mehrere Monate zusammenlebte. Einfühlsam und detailreich schildert Zola in ihm die unmenschlichen, krankmachenden Arbeitsverhältnisse im Bergwerk sowie die ärmlichen Lebensbedingungen in den Arbeiterdörfern, denen er die feine Welt der Besitzer und Aktionäre gegenüberstellt. Zentrales Ereignis des Romans ist ein vom Protagonisten Étienne angeführter Aufstand, der letztlich scheitert und im Tod vieler Arbeiter endet, nicht zuletzt, weil das Bergwerk durch den Sabotageakt eines Anarchisten geflutet wird.

 

In Zolas Roman begegnet uns ein Thema, das auch häufig in Freuds Werk auftauchtiv, nämlich das Vorurteil oder die Beobachtung, dass die sexuellen Sitten im proletarischen Milieu freier, ungehemmter, aber auch gewalttätiger seien. Die beengten Verhältnisse, die Unterbringung ganzer Familien in kleinen Baracken, erlauben gar nicht erst das Aufkommen von bürgerlicher Schamhaftigkeit. So schildert Zola, dass die Affären gewisser Arbeiterinnen im ganzen Dorf bekannt sind und Anlass für Späße, aber auch für Prügeleien bieten, wogegen die Aufdeckung einer lang geheim gehaltenen Affäre im Bürgershaushalt dem gehörnten Ehemann zwar das Herz bricht, aber von diesem zur Wahrung des schönen Scheins geheim gehalten wird. An einer Stelle thematisiert Zola sogar den sexuellen Neid der Bürgersleute auf die Arbeiter, wenn nämlich der betrogene Ehemann sehnsuchtsvoll an den Feldern vorbeigeht, auf denen es die jungen Arbeiterpärchen ohne eigenen Hausstand miteinander treiben. Im Kontext dieser Gegenüberstellung von bürgerlich-neurotischer Empfindsamkeit und proletarischer Verrohtheit ist auch Zolas Schilderung der infantilen Sexualität verortet – und damit komme ich zur Passage, in der der von Freud zitierte Ausspruch steht.

 

Die Szene: Die drei Heranwachsenden Jeanlin, Lydie und Bébert sollen Löwenzahn für die Zubereitung von Salat sammeln, da infolge von Kürzungsmaßnahmen der Bergwerksbetreiber das Brot immer knapper wird. (Später wird Brot dann zu einem zentralen Thema des Romans; die immerzu wiederholte Parole des Arbeiterstreiks lautet »Brot, Brot, Brot«.) Die drei Kinder führen den Auftrag der Eltern aus, verkaufen jedoch den gesammelten Löwenzahn und behalten das Geld für sich. Anführer dieses Plans ist der schon jugendliche Jeanlin, der als frühreifer und egoistischer und im Verlauf des Romans immer brutaler werdender Junge dargestellt wird. Jeanlin behält auch das meiste Geld für sich selbst; für Lydie »verwahrt« er sogar ihren ganzen Anteil, wobei klar ist, dass sie keinen Sous davon bekommen wird. Als Lydie protestieren möchte, wiegelt Jeanlin ab, indem er ihren Einspruch in sexuelle Spielereien überführt, die durchaus etwas Gewaltsames haben. Der dritte im Bunde, der kleine Bébert, der in Lydie verliebt ist, muss sich dabei mit der Rolle des Zuschauers begnügen.

 

»Um sie stumm zu machen, hatte er sie lachend umfangen und wälzte sich mit ihr am Boden. Sie war sein Frauchen. Sie versuchten in den dunklen Winkeln die Liebe, die sie zu Hause hinter den dünnen Wänden und zwischen den Türritzen sahen und hörten. Sie wußten alles, aber sie konnten noch nicht, denn sie waren zu jung und tasteten daher nur und spielten stundenlang wie lasterhafte junge Hunde. Er nannte dies ›Vater und Mutter spielen‹, und wenn er sie hinwegführte, lief sie mit ihm, und ließ ihn gewähren, mit dem köstlichen Schauer des Instinkts, oft verletzt, aber immer wieder nachgebend, in Erwartung irgendeiner Sache, die nicht kam [dans l’attente de quelque chose qui ne venait point].«v

 

Vermutlich mehr als 50 Jahr nach seiner erstmaligen Lektüre dieser Passage verwendet Freud einige Zeilen aus ihr, um die unbefriedigende Natur der infantilen Onanie zu beschreiben. Was verbindet diese Szene mit der kindlichen Masturbation? Auf den ersten Blick vor allem das Ausbleiben des Orgasmus in der ziellos betriebenen infantilen Sexualität. (Ein Ausbleiben, das übriges nicht allgemein ist, denn auch Kinder können Orgasmen haben.vi)

 

Wenn wir das von Zola entworfene szenische Arrangement berücksichtigen, können wir aber noch ein weiteres verbindendes Element erkennen, nämlich die ödipale Anordnung. Jeanlin und Lydie spielen das Papa-Mama-Spiel und wie Freud insbesondere ab den 1920er Jahren behaupten sollte, stellt auch die infantile Onanie, insofern sie regelmäßig mit inzestuösen Fantasien einhergeht, einen Versuch dar, sich probeweise in die Position des Gatten der Mutter oder der Gattin des Vaters zu begeben.vii In diesem Sinne könnte gerade der notwendig zum Scheitern verurteilte Versuch, die Generationendifferenz in der ödipalen Fantasie aufzuheben, die kindliche Onanie zu einem unbefriedigenden Unterfangen machen. Denn nach Freud impliziert die ödipale Onanie immer auch das Eingeständnis der Tatsache, die sie zu verleugnen versucht: Um den Ausschluss aus der Urszene masturbatorisch zu negieren, muss er auf einer basalen Ebene bereits registriert worden sein.viii Diese ödipale Lesart wird noch dadurch bestärkt, dass sich der Ausschluss aus der Urszene bei Zola nochmals auf Ebene der kindlichen Sexualität reproduziert. Denn der kleine Bébert, unglücklich und sehnsüchtig verliebt in Lydie, wird in Zolas Szene gewissermaßen noch ein zweites Mal zum Kind gegenüber dem Elternpaar gemacht, also auf die Position des ausgeschlossenen, masturbierenden Dritten gesetzt.

 

Die eifersüchtige Beobachtung des Koitus durch einen Dritten – auch in der Konstellation eines Jüngeren gegenüber elterlichen Figuren – ist ein Thema, das immer wieder in Germinal auftaucht.ix So beobachtet der Protagonist Étienne zu Beginn des Romans Catherine, in die er verliebt ist und die auch ihn liebt, mit Chaval (ihrem baldigen Mann) beim Sex auf dem Feld, und seine Eifersucht zieht sich durch das ganze Werk. Am dramatischen Höhepunkt von Germinal finden sich die drei eingesperrt im gefluteten Schacht. Étienne erschlägt Chaval und schläft mit Catherine, während die Leiche seines Antagonisten neben ihnen im Wasser treibt. Der von Freud behauptete Zusammenhang von (ödipalem) Triumph und (Vater-)Mord hätte kaum besser inszeniert werden können. Sicherlich gehört Zola zu den Schriftstellern, die Freud mit dem (mytho-)symbolischenx Material versorgt haben, aus dem er seine Theorie des Ödipuskomplexes geschmiedet hat.

 

Neben dem Ödipuskomplex verweist uns das Zola-Zitat auch noch auf ein weiteres Element der infantilen Masturbation: die Verführung. Freud hatte sowohl im Rahmen seiner Verführungstheorie als auch in einigen späteren Bemerkungen angenommen, dass die infantile Autoerotik von interpersonellen sexuellen Erlebnissen ausgehen kann, die den Sexualtrieb im Kinde wecken.xi Es dürfte also kein Zufall sein, dass er in seiner späten Notiz zur Onanie eine Passage zitiert, in der die infantile Sexualität aus Verführungserlebnissen entspringt, nämlich aus dem Belauschen und Beobachten des elterlichen Koitus (»hinter den dünnen Wänden und zwischen den Türritzen«), aber auch aus den Übergriffen Jeanlins, der Lydies »köstlichen Schauer des Instinkts« provoziert. Möglicherweise ist es aber auch dieses potenziell gewaltsame, traumatische Moment der Verführung, das Freud das Zitat hat entstellen lassen. Bei Zola heißt es nämlich »dans l’attente« (in Erwartung) und nicht wie bei Freud »en attendant« (wartend). Ich vermute, diese Verschiebung auf Signifikantenebene ist durch die zu große Nähe des »attente« zum »Attentat« bedingt. Als Attentate pflegte Freud im Rahmen seiner Verführungstheorie Übergriffe durch Erwachsene, aber auch durch ältere Kinder zu bezeichnen.xii

 

II.

 

Ein Aufsatz, der in mehrerlei Hinsicht einen Bezug zu der von Zola geschilderten Szene hat, ist Freuds Abhandlung über Deckerinnerungen von 1899. Freud gibt hier ein ausgiebiges Gespräch mit einem Patienten über den Status von dessen Kindheitserinnerungen wieder. Es geht darum, wie es kommen kann, dass uns manchmal nur die unbedeutendsten Szenen aus unserer frühen Kindheit in Erinnerung bleiben, wohingegen bedeutendere Ereignisse keinen erinnerbaren bildlichen Abdruck in unserem Gedächtnis hinterlassen haben. Die erinnerte Kindheitsszene dieses Patienten, um die sich der Artikel dreht, weist dabei erstaunliche Ähnlichkeiten zur Szene in Zolas Roman auf:

 

»Ich sehe eine viereckige, etwas abschüssige Wiese, grün und dicht bewachsen; in dem Grün sehr viele gelbe Blumen, offenbar der gemeine Löwenzahn. Oberhalb der Wiese ein Bauernhaus, vor dessen Tür zwei Frauen stehen, die miteinander angelegentlich plaudern, die Bäuerin im Kopftuch und eine Kinderfrau. Auf der Wiese spielen drei Kinder, eines davon bin ich (zwischen zwei und drei Jahren alt), die beiden anderen mein Vetter, der um ein Jahr älter ist, und meine fast genau gleichaltrige Cousine, seine Schwester. Wir pflücken die gelben Blumen ab und halten jedes eine Anzahl von bereits gepflückten in den Händen. Den schönsten Strauß hat das kleine Mädchen; wir Buben aber fallen wie auf Verabredung über sie her und entreißen ihr die Blumen. Sie läuft weinend die Wiese hinauf und bekommt zum Trost von der Bäuerin ein großes Stück Schwarzbrot. Kaum daß wir das gesehen haben, werfen wir die Blumen weg, eilen auch zum Haus und verlangen gleichfalls Brot. Wir bekommen es auch, die Bäuerin schneidet den Laib mit einem langen Messer. Dieses Brot schmeckt mir in der Erinnerung so köstlich und damit bricht die Szene ab.«xiii

 

Zahlreiche Elemente dieser Erinnerung stimmen mit denjenigen aus Zolas Roman überein: der gepflückte Löwenzahn, das Arrangement mit den drei Kindern (wobei Freuds Patient hier der Jüngste ist), das misshandelte und um ihren Verdienst gebrachte Mädchen sowie das eingeforderte Brot; fast möchte man den sich fraternisierenden Jungs den »Brot«-Schlachtruf des Arbeiteraufstandes in den Mund legen. Andere Elemente weichen vom Roman ab: Anders als bei Zola ist der jüngere Junge zwar in verwandtschaftlicher Hinsicht ausgeschlossen – die anderen beiden sind ja Geschwister –, bleibt jedoch kein bloßer Zuschauer mehr, sondern ist voll in den Überfall auf das Mädchen involviert. Zur Auflösung der Szene durch die versorgende Bäuerin gibt es ebenfalls bei Zola keine Entsprechung. Auffällig ist zudem, dass diese Szene nicht von einem Mangel an sexueller Erfüllung, wohl aber von einem Übermaß an sinnlichen Eindrücken geprägt ist. Freuds Patient selbst erklärte, dass die sinnlichen Eindrücke – das Gelb der Blumen oder der Geschmack des Brotes – geradezu überzeichnet in seiner Erinnerung wirken. Man könnte vermuten, dass es die Intensität des Geschmacks war, der diese Szene überhaupt zum Abbruch geführt hat – so wie man aus dem Traum aufwacht, wenn er zu erregend wird.

 

Freud und sein Patient, die eine Art sokratischen Dialog führen, begreifen diese Erinnerung nun als Deckerinnerung, und zwar als sogenannte rückläufige oder rückgreifende Deckerinnerung. Das meint, dass sich die erinnerte Szene zwar wirklich so zugetragen habe, dass sie aber überhaupt erst durch spätere Ereignisse, Bestrebungen und Fantasien so bedeutend werden konnte, dass sie sich als signifikante Erinnerungen erhalten habe. Ein Indiz für diese nachträgliche Auswahl der Szene sei, dass der Patient sich in ihr wie in der Beobachterperspektive von außen sehe. Freuds Patient liefert dabei zwei Szenen aus späteren Zeiten, die diese Kindheitserinnerung nachträglich mit Bedeutung aufgeladen haben.

  • Erste Szene: Der Patient, der wegen beruflicher Probleme seines Vaters als Kleinkind sein Heimatdorf verlassen musste, war mit 17 Jahren ins Dorf zurückgekehrt und hatte sich umgehend in ein Mädchen verliebt, das ein gelbes Kleid trug. Er bildete dann eine Fantasie mit dem Inhalt: Wenn ich doch nicht hätte wegziehen müssen, wäre ich zu Hause ein kräftiger bäuerlicher Mann geworden und hätte dieses Mädchen geheiratet.

  • Zweite Szene: Mit 20 Jahren überlegten sich Vater und Onkel des Patienten, dass er statt seines nutzlosen Studiums ein handfesteres, praktisch verwertbareres Studium angehen und seine Cousine – das Mädchen aus der Kindheitserinnerung – heiraten sollte. Der Patient wollte seinerzeit nichts von diesem Plan wissen, doch als ihn später in seinem Leben Geldnöte plagten, dachte er häufiger an diese ausgeschlagene Option eines bodenständigen Brotberufes und Familienlebens zurück.

 

Freud und sein Patient rekonstruieren nun – ich lasse dabei einige Zwischenschritte aus –, dass es die Fantasien aus späteren Zeiten sind, die sich im Deckmantel der Kindheitserinnerung Ausdruck verschaffen. Als Einfallstor für diese späteren Fantasien diene dabei das, was Freud später »Wortbrücken« nennen sollte: Die Fantasie von der Brautnacht mit dem gelbgekleideten Mädchen bzw. mit der Cousine drücke sich im Klau der gelben Blumen, d.h. der Defloration, aus. Und der Gedanke an ein Sicherheit gewährendes Brotstudium finde seinen Ausdruck im wohlschmeckenden Brot der infantilen Szene. Freud schlussfolgert daraus, dass das Gelb der Blume und der Geschmack des Brotes genau deshalb so grell überzeichnet sind, weil sich die späteren Wünsche in diesen Bildelementen artikulieren.xiv

 

Nun wissen wir, seitdem erstmals Siegfried Bernfeld den Nachweis geführt hatxv, dass der Patient aus dem Deckerinnerungsaufsatz Freud selbst war. Nicht nur ist die Übereinstimmung von Freuds Biografie mit derjenigen seines Patienten bis ins Detail nachweisbar. Auch spricht sein späteres Verhalten gegenüber diesem Artikel, den er (in einer Zeit, in der er berühmter wurde) tendenziell zu verheimlichen versuchte, deutlich für diese These. Und schließlich müssen wir bedenken, dass Freud nicht einmal lügt, wenn er sich als einen seiner Patienten bezeichnet, denn die Deckerinnerungsschrift ist noch in Zeiten seiner intensiven Selbstanalyse verfasst.

 

Die biographische Rekonstruktion von Bernfeld und vielen, die ihm folgtenxvi, verrät uns: Das Dorf der Kindheitserinnerung ist das mährische Freiberg, in dem Freud bis in sein viertes Lebensjahr aufgewachsen war, bevor die Familie wegen ökonomischer Probleme über Leipzig nach Wien ziehen musste. Die beiden Kinder sind Freuds etwa gleichaltriger Neffe John sowie seine etwas jüngere Nichte Pauline, Kinder seines deutlich älteren Halbbruders Emanuel. In einem Brief an Wilhelm Fliess, verfasst etwa in derselben Zeit wie seine Deckerinnerungsschrift, finden wir sogar die in ihr beschriebene Szene angedeutet: »Auch den Genossen meiner Untaten zwischen 1-2 Jahren kenne ich längst, es ist ein um ein Jahr älterer Neffe, jetzt in Manchester [...]. Mit der um ein Jahr jüngeren Nichte scheinen wir beide gelegentlich grausam umgegangen zu sein.«xvii Was die Kinderfrau und vielleicht auch die Bäuerin angeht, so dürfte mindestens eine von ihnen Freuds sagenumwobenem Kindermädchen und die andere vielleicht seiner Mutter entsprechen. Auch für die späteren Szenen, die der Deckerinnerung nachträglich ihre Strahlkraft verliehen haben, finden sich Entsprechungen in der Biografie Freuds: Das Mädchen mit dem gelben Kleid ist Gisela Fluss, Freuds Jugendschwarm bei seiner einzigen Rückreise nach Mähren im Alter von 16 (nicht 17)xviii Jahren. Und die Verheiratungs- und Brotstudiumspläne hatte es tatsächlich gegeben: Als Freud etwa 20 Jahre alt war, sollte er zu seinem nach England emigrierten Halbbruder ziehen, wo er ein handfestes Ingenieursstudium ergreifen und seine Nichte Pauline – das Mädchen aus der Kindheitserinnerung – heiraten sollte. Die Geldnöte schließlich, die Freud als Grund für die Fantasie vom Brotberuf erwähnt, entsprachen seiner prekären finanziellen Situation bis in sein viertes Lebensjahrzehnt hinein.

 

Vermutlich fällt die Zeit der Bildung der Deckerinnerung in die insgesamt viereinhalb Jahre andauernde Phase des Verlobtseins mit Martha Bernays. Aufgrund von Freuds mangelndem bzw. unsicherem ökonomischen Einkommen und weil Martha keine Mitgift in die Ehe mitbringen konnte, mussten die beiden die Hochzeit und die Gründung eines gemeinsamen Hausstandes immer wieder aufschieben. Die Not betraf in dieser Zeit nicht nur das materielle, sondern auch das sexuelle Leben, denn es ist davon auszugehen, dass Freud vor Abschluss der Ehe einen tendenziell keuschen sexuellen Lebensstil pflegte. Deflorations- und Brotberufswünsche konnten auf dem Boden dieser Notsituation gut gedeihen.

 

Nun wissen wir nicht, ob Freud in dieser Zeit onaniert hat und es ist auch nicht wirklich interessant.xix Es ist allerdings davon auszugehen, dass sich ihm die Onanie in der Zeit des immerzu verlängerten vorehelichen Wartestandes als Option angeboten oder gar aufgedrängt hat. Vor diesem Hintergrund fällt die Ähnlichkeit der Kindheitserinnerung (bzw. der Versatzstücke, aus denen sie gebildet ist) mit einem sexuellen Tagtraum oder einer Onaniefantasie ins Auge. Im Grunde reaktiviert diese Erinnerung erotische Träumereien von anderen Frauen, auf die Freud nicht hätte warten müssen. Für die Präsenz des Masturbationsthemas in dieser Erinnerung finden wir zudem einige Anhaltspunkte in dem Aufsatz selbst: Dass das Ausreißen (eines Astes) ein Symbol für die Onanie sei – getreu dem damals geläufigen Ausdruck »sich einen ausreißen« –, behauptet Freud nämlich erstmals just in genau diesem Aufsatz. Dass er diesen Gedanken ans Ende des Textes stellt und nicht selbst auf die Kindheitserinnerung bezieht, könnte eine Absicherung für den Fall dargestellt haben, dass er als sein Patient identifiziert werden würde.xx Die Deutung, dass die Kindheitserinnerung vom gepflückten Löwenzahn den Impuls, sich einen »auszureißen«, d.h. zu onanieren, ausdrückt, wird ferner dadurch bestärkt, dass der Löwenzahnstängel eine weißliche (häufig für giftig gehaltene) Flüssigkeit absondert, wenn man ihn abreißt – ein Umstand, auf den Didier Anzieu in diesem Zusammenhang hingewiesen hat.xxi Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass die Kindheitserinnerung vom gepflückten Löwenzahn von einigen Autoren als entstellte Masturbationsfantasie bzw. als Symbolisierung des Impulses zur Masturbation gedeutet wurde.xxii

 

Wie kann man dann aber die (von der Freudforschung bislang scheinbar noch nicht registrierte) starke Übereinstimmung der Passage bei Zola mit der Deckerinnerungsszene erklären? Man kann mutmaßen, dass Freud die Kindheitserinnerung überhaupt erst anlässlich seiner Zola-Lektüre gebildet hat, nämlich während seines Parisaufenthaltes, rund ein Jahr vor seiner Hochzeit mit Martha. Vielleicht hat sich ihm bei dieser Lektüre der Ausdruck »en attendant toujours« so eingebrannt, weil er seiner aktuellen Situation so sehr entsprach: dem Wartestand auf eine Sache, die nicht kommen wollte. Vielleicht vermischten sich ihm dabei Erinnerung, Tagtraum und Gelesenes auf eine ihm selbst nicht transparente Art und Weise. In diesem Sinne könnte man die Tatsache, dass Freud die Kindheitsszene aus der Beobachterperspektive erinnert, auch als Hinweis darauf werten, dass er die bei Zola dargestellte Szenerie mit subjektivem Inhalt füllt. Das bleibt aber natürlich alles Spekulation.

 

Ich bin hier schon recht weit in die biographische Analyse eingestiegen. Natürlich könnte man aber auch noch weiter gehen. Denn bislang habe ich nur – Freuds eigener Analyse folgend – die Deckerinnerung als eine rückgreifende beschrieben. Aktuelle Wünsche (Brotberuf, Hochzeit, die Option der Onanie und möglicherweise auch der Ärger über seine schlecht bemittelte Verlobte) verschanzen sich dieser Analyse zufolge in der Erinnerung an das kindliche Treiben auf der Wiese. Doch natürlich kommen hier auch andere zeitliche Strukturen in Frage: Deckerinnerungen können auch vorgreifend oder gleichzeitig sein.xxiii In diesem Sinne kann man fragen, was für Kindheitserfahrungen Freuds sich in dieser Szene verdeckt ausdrücken. Man wird dann neben den möglicherweise doch nicht so unschuldigen Spielen mit John und Paulinexxiv schnell auf das Trauma der Migration, auf den Komplex des Kindermädchens (das Freud als seine »Lehrerin in sexuellen Dingen«xxv bezeichnete und das, weil es die Familie bestohlen hatte, ins Gefängnis gehen musste), auf die Geburt und das schnelle Versterben des kleinen Bruders Julius und womöglich auch auf die Kastrationsdrohung infolge onanistischer Betätigungen stoßen. Einzelne Elemente aus der Kindheitserinnerung mögen diese Komplexe ausdrücken: Das lange Messer könnte zugleich die Erektion und die Kastration symbolisieren, das Aufschneiden des Brotlaibes könnte eine morbide Geburtstheorie darstellen usw. Auch das bleibt alles spekulativ.xxvi

 

Bevor ich nun noch einer weiteren Spur folge, möchte ich das hier gestreifte Verhältnis von Onaniefantasie, Tagtraum und Deckerinnerung noch zum Anlass nehmen, eine allgemeinere Aussage in Bezug auf Onaniefantasien zu treffen. Ich gehe davon aus, dass Onaniefantasien strukturell so aufgebaut sind wie Deckerinnerungen, das heißt, dass sie gemachte Erfahrungen auf eine selbstgerechte Weise neu erinnern, interpretieren und transformieren. Es gibt nur wenige Analytiker, die in ihren Analysen wirklich so weit vorgedrungen sind, die Onaniefantasien ihrer Analysanden auseinanderzunehmen und in ihrer lebensgeschichtlichen Genese zu erhellen. Robert Stollerxxvii und im deutschsprachigen Raum Reimut Reichexxviii wären hier zu erwähnen; zudem hat es der britische Analytiker Brett Kahr mit einem recht aufwendigen Interviewdesign geschafft, Masturbationsfantasien im nicht-klinischen Kontext lebensgeschichtlich zu durchleuchten.xxix Alle diese Autoren fanden regelmäßig Verkehrungen von Kränkungserfahrungen und Traumata, aktuelle wie vergangene Notsituationen, Unverstandenes aus der frühen Kindheit und frustrierte Bedürfnisse nach Bindung, Anerkennung oder Bewunderung in Masturbationsfantasien verdichtet. Masturbationsfantasien sind mit Lacan gesprochen ein imaginärer Schirm, der nur in verschlüsselter Form das hinter ihm Liegende erahnen lässt. Oder um ein Gleichnis Stollers zu bemühen: Masturbationsfantasien sind wie »Microdots« aufgebaut: von Geheimdiensten verwendete Zeichen, die in Stecknadelgröße den Inhalt einer ganzen Buchseite verstecken.xxx

 

III.

 

Es gibt noch eine weitere Stelle in Freuds Werk, an der er sich auf die hier diskutierte Szene bei Zola bezieht, nämlich in seiner Analyse seines »Traumes vom Grafen Thun«. Ich kann diesen recht langen Traum und dessen hoch komplexe Analyse hier nicht wiederholen. Nur so viel möchte ich wiedergeben: Der Traum beginnt damit, dass auf einer Studentenversammlung ein Graf den Huflattich für die Lieblingsblume der Deutschen erklärt. Freud schreibt in der Analyse dann seine Assoziationen zum Huflattich auf: Über lattice – Salat – Salathund (der Hund, der anderen nicht gönnt, was er doch selbst nicht frisst) kommt er dann zum Hund. Dann fügt er hinzu:

 

»Außerdem übersetze ich mir – ich weiß nicht, ob mit Recht – Huflattich mit ›pisse-en-lit‹. Die Kenntnis kommt mir aus dem ›Germinal‹ Zolas, in dem die Kinder aufgefordert werden, solchen Salat mitzubringen. Der Hund – chien – enthält in seinem Namen einen Anklang an die größere Funktion (chier, wie pisser für die kleinere). Nun werden wir bald das Unanständige in allen drei Aggregatzuständen beisammen haben; denn im selben ›Germinal‹ [...] ist ein ganz eigentümlicher Wettkampf beschrieben, der sich auf die Produktion gasförmiger Exkretionen, Flatus genannt, bezieht.«xxxi

 

Freud unterlaufen hier gleich zwei Fehlleistungen. Er übersetzt den Huflattich fälschlicherweise mit pissenlit, dem französischen Ausdruck für Löwenzahn. Und dann meint er, die Szene eines Furzwettbewerbs im Germinal zu erinnern – obwohl sie eigentlich aus einem anderen Roman Zolas stammt, nämlich La Terre. Letzteren Fehler korrigiert er in einer Fußnote, nur aber um die Assoziation zwischen Huflattich und Flatus noch einmal zu bestärken, indem er auf die Klangähnlichkeit beider Wörter verweist. Ich gebe eine kurze Übersicht zu Freuds Assoziationen:

 

Huflattich – pissenlit – pisse-en-lit

Huflattich – lattice – Salat – Salathund – Hund – chien – chier

Huflattich – pissenlit – Germinal-Szene – (Zola – La Terre –) Flatus

Huflattich – Flatus

 

Drei weitere Assoziationswege, die Freud nicht erwähnt, könnten so ausgesehen haben:

 

Huflattich – pissenlit – Germinal-Szene – »chiens vicieux«xxxii – chier

Huflattich – »Wanderers Klopapier«xxxiii

Huflattich – Hufeisen – weibliches Genitalxxxiv

 

Der Weg, der Freud in seiner Analyse des Traumes vom Grafen Thun vom Huflattich zu den exkrementellen Funktionen führt, ist also vermittelt über die Zolasche Szene. Oder andersherum: die Zolasche Szene gewinnt durch diese Assoziationen – die wiederum über Wortbrücken gehen – eine exkrementelle Bedeutung. Zum unbefriedigenden Charakter der infantilen Onanie tritt damit ein neues Moment hinzu: die kindliche Sexualität als das Überschüssige, Anstößige, Perverse.

 

Von hier aus bietet sich auch eine andere Lesart von Freuds Deckerinnerung an. Vielleicht vertritt das Gelb der Blumen auch die Farbe des Urins und vielleicht ist das köstliche dunkle Brot eine verkehrte Darstellung des zunächst interessanten und dann verschmähten Kots. Von Brot zu Kot lässt sich auch mit wenig Aufwand eine Wortbrücke schlagen. In diesem Sinne würde Freuds Kindheitserinnerung also nicht nur spätere genitale und ökonomische Wünsche decken, sondern auch die infantile Lust am Spielen mit Urin, Kot, Flatus.

 

Ich möchte hieraus nun einen allgemeinen Charakter der infantilen Onanie ableiten. Genauer gesagt, müsste man hierbei aber vom Autoerotismus sprechen, ein Begriff, der weiter angelegt ist als der der Onanie und der eben die nicht-genitalen Aktivitäten der Selbststimulation und -befriedigung umschließt. Dieser nicht-genitale Charakter der infantilen Autoerotik lässt sich im Verhältnis zur erwachsenen Sexualität nur in einer Paradoxie artikulieren. Einerseits kann man auch die perverse Autoerotik des Kindes im Sinne der ödipalen Unbefriedigung auslegen. Kinder tendieren dazu, sich den Koitus der Eltern oder die Geburt von Geschwistern als urinales, anales oder auch sadistisches Geschehen vorzustellen bzw. zu entsprechenden Fantasien zu masturbieren. In diesem Sinne ist die perverse Autoerotik des Kindes durch einen Mangel geschlagen. Doch das alleine wäre eine adultomorphe Perspektive. Genauso gut kann man sagen, dass die perverse Autoerotik des Kindes über die Grenzen der erwachsenen genitalzentrierten Welt hinausgeht. Um es mit Lacan zu sagen: Die infantile Autoerotik ist kein phallisches, sondern ein anderes Genießen.

 

IV.

 

Ich hoffe, über den Umweg der Analyse des Zola-Zitats verschiedene Aspekte der infantilen Onanie thematisiert zu haben: die Onanie als durch die ödipale Frustration gezeichnete und sie zugleich verarbeitende, man könnte auch sagen: ihr symbolischer Aspekt; die Onaniefantasie als Deckerinnerung, in welcher Geschichte immer zugleich erinnert und entstellt wird: der imaginäre Aspekt; und schließlich die Onanie als perverser Autoerotismus, der ein überschießendes Genießen in sich trägt: der reale Aspekt.

 

Zum Zusammenhang zwischen Onanie und intellektueller Hemmung bzw. Arbeitsstörung, den Freud in seinem späten Fragment behauptet, möchte ich abschließend noch einige kurze Überlegungen anstellen.

 

Man kann sich diesen Zusammenhang in einem klassisch-freudianischen Sinne so vorstellen, dass die gehemmten Tätigkeiten unbewusst mit der Bedeutung der Onanie und infolgedessen mit Onaniekonflikten beladen sind. Freud gibt für eine solche Hemmung von nicht-sexuellen Tätigkeiten durch sexuelle Konflikte eine plastische Beschreibung:

 

»Wenn das Klavierspielen, Schreiben und selbst das Gehen neurotischen Hemmungen unterliegen, so zeigt uns die Analyse den Grund hierfür in einer überstarken Erotisierung der bei diesen Funktionen in Anspruch genommenen Organe, der Finger und der Füße. Wir haben ganz allgemein die Einsicht gewonnen, daß die Ichfunktion eines Organes geschädigt wird, wenn seine Erogenität, seine sexuelle Bedeutung, zunimmt. Es benimmt sich dann, wenn man den einigermaßen skurrilen Vergleich wagen darf, wie eine Köchin, die nicht mehr am Herd arbeiten will, weil der Herr des Hauses Liebesbeziehungen zu ihr angeknüpft hat. Wenn das Schreiben, das darin besteht, aus einem Rohr Flüssigkeit auf ein Stück weißes Papier fließen zu lassen, die symbolische Bedeutung des Koitus angenommen hat, oder wenn das Gehen zum symbolischen Ersatz des Stampfens auf dem Leib der Mutter Erde geworden ist, dann wird beides, Schreiben und Gehen, unterlassen, weil es so ist, als ob man die verbotene sexuelle Handlung ausführen würde.«xxxv

 

Warum sind nun genau die Onanie und die mit ihr assoziierten Konflikte prädestiniert, Arbeits- und intellektuelle Hemmungen zu verursachen? Ich denke, weil die Onanie die sexuelle Basis des vorstellenden Denkens und damit der intellektuellen Arbeit bildet. Denn was ist die Onanie? Sie ist die temporäre Ersetzung eines Objekts durch ein eigenes Körperteil, kombiniert mit einer Fantasie.xxxvi Als Berührung des eigenen (sexuellen) Körpers stellt sie die körperliche Urform dessen dar, was im reflexiven Denken eine gedankliche Selbstberührung oder ein innerer Dialog werden wird. Durch die Fantasiebildung eröffnet sie ferner einen Raum des Probehandelns und Problemlösens, der vorbildlich für das produktive Fantasieren überhaupt ist. Die Onanie ist im Sinne Donald Winnicotts im Übergangsbereich zwischen Innen und Außen angesiedelt, die Psychoanalytikerin Gisèle Chaboudez nennt sie ein Übergangsgenießen.xxxvii Das heißt, dass sie weder rein regressiv noch rein progressiv ist; sie hat ihre Ausläufer einerseits in den Bereich von Verleugnung, Sucht und Fetisch, andererseits in den von Kreativität und Sublimierung. Angesichts dieser Vermittlungsfunktion der Onanie ist es naheliegend, dass gerade die intellektuelle Arbeit durch eine Hemmung der infantilen Selbstbefriedigung in Mitleidenschaft gezogen wird.xxxviii Oder anders: Die intellektuelle Vorstellung bleibt, statt einen Anteil ihrer Kraft aus sublimierter Onanie zu beziehen, unbewusst mit einer konflikthaft aufgeladenen Onanie gleichgesetzt, was sich hemmend auf sie auswirkt. Das wäre möglicherweise der Beitrag der Onanierepression zur »Genese der Dummheit«xxxix.

 

Das bisher Ausgeführte wäre die Langversion des ersten Satzes aus dem Freudzitat: »Letzter Grund aller intellektuellen und Arbeitshemmungen scheint die Hemmung der kindlichen Onanie zu sein.« Diese klassische These erweitert Freud in seinem Fragment allerdings, indem er »tiefer« geht und vermutet, dass nicht die äußere, erzieherische Hemmung der infantilen Onanie, sondern diese selbst – durch ihren unbefriedigenden Charakter – für intellektuelle und Arbeitshemmungen vorbildlich sei. Gehemmtheit wäre in diesem Sinne nicht zu verstehen als Störung einer nicht-sexuellen Ich-Funktion durch Sexualität, sondern als Fortführung einer in der (infantilen) Sexualität selbst angelegten Hemmung auf nicht-sexuellem, hier intellektuellem, Terrain. Die Arbeitsstörung wäre eine intellektuelle Anorgasmie, die auf die grundlegende sexuelle Anorgasmie des Kindes zurückverweist.

 

Eine solche Herleitung der intellektuellen Hemmungen, einschließlich insbesondere der Prokrastination, hat Einiges für sich. So finden wir in der Symptomatologie solcher Hemmungen nicht nur das ziellose Herumspielen, das an die fehlende Entlastung in der infantilen Sexualität denken lässt. Auch können wir beobachten, wie der Prokrastinierende auf »anderen Gebieten« einen Ersatz sucht, z.B. in orgasmusanalogen Erfahrungen oraler oder analer Art (essen, trinken, rauchen, zur Toilette gehen, Zimmer aufräumen usw.) oder beim Candy-Crush-Spielen, wobei der Smartphonebildschirm den verfehlten Orgasmus für uns zu simulieren scheint.xl Und schließlich kann auch die Masturbation ein Symptom der Prokrastination sein: Der sexuelle Orgasmus wäre dann ein neurotischer Ersatz des nicht zu erlangenden »Ich-Orgasmus«xli.

 

Ich glaube allerdings, dass die Konzeption der Prokrastination als Wiederholung der infantil-sexuellen Unbefriedigung nicht ganz befriedigend ist. Sie ist zu sehr von der adultomorphen, negativen Auffassung der infantilen Sexualität geprägt, und übersieht deren überschießendes Moment. Beide hängen aber durchaus zusammen: Der in der infantilen Sexualität angelegte organische Befriedigungsmangel macht zugleich ihren Zug des unmäßigen Genießens aus, denn gerade das Fehlen einer genitalen Abfuhr treibt den infantilen Autoerotismus über sich und das Lustprinzip hinaus. Die infantile Autoerotik zielt entsprechend nicht auf eine Entlastung, d.h. die Wiederherstellung eines Gleichgewichtszustandes, sondern auf »Erregung bis zur Erschöpfung«xlii – das heißt auf eine prinzipiell endlose Steigerung der Sexualerregung, die lediglich durch Intervention der Selbsterhaltungsbedürfnisse (z.B. in Form von Müdigkeit) gestoppt wird.

 

Die intellektuelle Hemmung wäre vor diesem Hintergrund nicht (nur) als Fortsetzung der infantil-ziellosen Spielerei zu begreifen, sondern (auch) als Abwehr eines überschießenden Erregungspotentials, das von der infantilen Onanie herrührt. Die Prokrastination wäre folglich eine Flucht ins Diesseits des Lustprinzips: Hemmung des autoerotischen Genießens in seiner doppelten Konnotation von Lust und Schmerz.

 

i Überarbeitete Version eines Vortrags im Rahmen der Reihe »Elemente der Psychoanalyse« an der Psychoanalytischen Bibliothek Berlin (25.10.2022). Eine leicht abweichende Version des ersten Abschnitts erschien als Lahl, Aaron: En attendant toujours..., in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse, 2023, Heft 99, S. 40–44

ii Freud, Sigmund: Ergebnisse, Ideen, Notizen (Notizen) (1938), in: Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 149–152, hier S. 152

iii Darauf bin ich aufmerksam geworden durch: Sauret, Marie-Jean: L’allègement du sexe, in: Psychanalyse, 2016, Heft 37, S. 47–57, hier S. 50

iv Vgl. z. B. die »Nestroysche Posse« in: Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), in: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 365–367

v Zola, Émile: Germinal, übers. von A. Schwarz, Stuttgart 1974, Reclam, S. 146f. frz. Orig. zitiert nach: ders., Germinal, Moskau 2008, Dodo-Press, S. 116

vi Vgl. Schuhrke, Bettina: Kindliche Ausdrucksformen von Sexualität, in: Z Sexualforsch, 2015, 28. Jg., S. 161–170, hier S. 165

vii Vgl. z. B. Freud, Sigmund: Untergang des Ödipuskomplexes (1924), in: Gesammelte Werke, Bd. 13, S. 395–402, hier S. 398

viii »In der Ur-Szene wird eine erregte Beziehung zwischen den Eltern beobachtet oder imaginiert, und dies kann von einem Kind, das gesund und fähig ist, seinen Haß zu meistern und diesen Haß in den Dienst des Masturbierens zu stellen, akzeptiert werden. Beim Masturbieren übernimmt das jeweilige Kind, das die dritte Person einer Dreiper­sonen- oder Dreieck-Beziehung ist, die volle Verantwortung für die bewußte und unbewußte Phantasie.« Winnicott, Donald W.: Über die Fähigkeit, allein zu sein, in: Psyche - Z Psychoanal, 1958, 12. Jg., Heft 6, S. 344–352 hier S. 346

ix Vgl. Grinstein, Alexander: Sigmund Freud’s Dreams, New York 1980, International Universities Press, S. 111–124

x Vgl. Laplanche, Jean: Mythos und Theorie in der Psychoanalyse, in: Psyche – Z Psychoanal, 2021, 75. Jg., Heft 8, S. 710–736

xi Freud, Sigmund: Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychose (1896), in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 379–403, hier S. 382; ders.: Abriß der Psychoanalyse (1938), in: Gesammelte Werke, Bd. 17, 63–123, hier S. 115

xii Vgl. z.B. Freud, Weitere Bemerkungen, S. 382. In einer französischen Publikation ist entsprechend mehrfach vom »attentat« die Rede. Ders.: L’hérédité et l’étiologie des névroses (1896), in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 407–422, hier S. 417f.

xiii Freud, Sigmund: Über Deckerinnerungen (1899), in: Gesammelte Werke, Bd. 1, 531–554, hier S. 540f.

xiv Udo Hock nennt solche durch ihre Deutlichkeit hervorgehobenen Elemente, welche mehrere Bedeutungen (hier: Bedeutungen aus unterschiedlichen Zeitkontexten) in sich verdichten, »Signfikanzzentren«. Vgl. Hock, Udo: Die Zeit des Erinnerns, in: Psyche - Z Psychoanal, 2003, 57. Jg., Heft 9–10, S. 812–840, hier S. 821f.

xv Bernfeld, Siegfried: Ein unbekanntes autobiographisches Fragment von Freud, in Bernfeld, Siegfried; Cassirer Bernfeld, Susanne, Bausteine der Freud-Biographik, Frankfurt/M. 1891, Suhrkamp, S. 93–111

xvi Vgl. u.a. Anzieu, Didier: Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse, übers. von E. Moldenhauer, München 1990, Verl. Internat. Psychoanalyse, S. 363–371; Krüll, Marianne: Freud und sein Vater – Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung, Frankfurt/M. 1882, Fischer, S. 195–199; Grinstein: Sigmund Freud's Dreams, Kap. 2; Swales, Peter J.: Freud, Martha Bernays, & the Language of Flowers, 1983, im Eigendruck; Eiferman, Rivka R.: The screen and behind it – Manifest and latent themes in Freud »Über Deckerinnerungen«, in: Gail S. Reed; Howard B. Levine (Hg.), On Freud’s »Screen Memories«, London 2015, Karnac, S. 80–103

xvii Freud, Sigmund: Brief vom 3.10.1897, in: Briefe an Wilhelm Fliess 1887–1904, hg. v. J. M. Masson, Bearb. der dt. Fassung von M. Schröter, Frankfurt/M. 1986, S. Fischer, S. 289. Siehe auch die Andeutung im Brief an die besagte Nichte, Pauline Hartwig, vom 23.9.1937. »Es ist wirklich schön von Dir, dass Du mir immer noch von Zeit zu Zeit schreibst, obwohl ich Dir gewiss kein zärtlicher Onkel gewesen bin. [...] und du warst zwei Jahre alt, als ich dich zuerst und zuletzt sah. Damals trug ich dich allerdings gern auf den Armen herum, was dir nicht immer recht war.« Online unter: https://www.loc.gov/resource/mss39990.01204/?sp=5&r=-0.885,0.043,2.769,1.147,0

xviii Vgl. die Spekulationen zu dieser Verschiebung auf die Zahl 17 von Swales, Freud, Martha Bernays, & the Language of Flowers, S. 11

xix Einen eigentümlichen und unergiebigen Disput zu diesem Thema lieferten sich Peter Rudnytsky, der sich sicher ist, dass Freud onanierte, und Élisabeth Roudinesco, die Freud gegen diese von ihr als Anschuldigung erlebte Unterstellung scheinbar verteidigen möchte: Vgl. Rudnytsky, Peter: Review of Freud in his Time and ours by Élisabeth Roudinesco, in: J. Hist. Behav. Sci., 2018, 54. Jg., Heft 3, S. 219–223; Roudinesco, Élisabeth: Response to Peter L. Rudnytsky, in: J. Hist. Behav. Sci., 2018, 54. Jg., Heft 3, S. 223–225; Rudnytsky, Peter: Rejoinder to Élisabeth Roudinesco, in: J. Hist. Behav. Sci., 54. Jg., Heft 3, S. 225

xx Es ist eine noch nicht genug gewürdigte Eigentümlichkeit von Freuds autobiographischen Rekonstruktionen, dass er zur Wahrung seiner Anonymität dieselben Zensurmechanismen anwendet, die er als die Mechanismen des Unbewussten beschrieben hat.

xxi Anzieu: Freuds Selbstanalyse, S. 295f.

xxii Vgl. Ebd., S. 365; Grinstein: Sigmund Freud's Dreams, S. 66; Krüll: Freud und sein Vater, S. 197–199; Swales: Freud, Martha Bernays, & the Language of Flowers, S. 18; Eiferman: The screen and behind it, S. 86ff. Auf die Details der teilweise gewagten Rekonstruktionen/Deutungen, die sich mal stärker auf Masturbationsthemen in der Kindheit (ödipale Fantasien, Kastrationsdrohung...) beziehen, mal auf die Jugendzeit (Schwärmerei für Gisela) oder das Erwachsenenleben (vorehelicher Wartestand) fokussieren, gehe ich hier nicht ein.

xxiii Siehe zu dieser Differenzierung: Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum), in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 52

xxiv Vgl. Freuds Äußerung in den Protokollen der Mittwochsgesellschaft während einer Diskussion über Hexenprozesse: »Das ganze Bild dieses Hexenprozeß-Verfahrens erinnert an die Kinderspiele auf einer Wiese, die ja auch oft genug in sexuelle Orgien ausarten.« Nunberg, Herman; Federn, Ernst (Hg.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. 2: 1908–1910, Frankfurt/M. 1977, S. Fischer, S. 113 Der Hinweis auf diese Stelle kommt von Swales: Freud, Martha Bernays, & the Language of Flowers, S. 52

xxv Freud, Sigmund: Brief vom 3.10.1897, S. 290

xxvi Hock bemängelt in diesem Zusammenhang, dass in die freudbiographische Rezeption des Deckerinnerungsaufsatzes eine Fixierung auf die Kindheitsszenen (man könnte sagen: als undialektische Antithese zu Freuds Betonung des Gewichts der späteren Szenen) Einzug gehalten habe – was insbesondere bei Krüll einen gewissen Konkretismus in Bezug auf Freuds mutmaßliche Kindheitserlebnisse zur Folge habe. Er plädiert dafür, ein Zusammenwirken der infantilen und der erwachsenen Szene (welche letztere eine Reinterpretation der infantilen impliziert) im Sinne der Nachträglichkeit anzunehmen. Vgl. Hock: Die Zeit des Erinnerns, S. 824f.

xxvii Von seinen zahlreichen Publikationen zum Thema sei ein Buch herausgehoben, das fast gänzlich der Analyse einer Masturbationsfantasie gewidmet ist: Stoller, Robert J.: Sexual excitement – Dynamics of erotic life, London 1979, Karnac

xxviii Reiche, Reimut: Die Rekonstruktion der zentralen Onaniephantasie in der Analyse eines jungen Homosexuellen, in: Dannecker, Martin; Reiche, Reimut (Hg.): Sexualität und Gesellschaft – Festschrift für Volkmar Sigusch, Frankfurt/M. 2000, Campus, S. 360–382

xxix Kahr, Brett: Sex im Kopf – Alles über unsere geheimsten Fantasien, Berlin 2008, Ullstein

xxx Vgl. Stoller, Sexual excitement, Kap. 10

xxxi Freud, Sigmund: Die Traumdeutung (1900), in: Gesammelte Werke, Bd. 2/3, S. 218f.

xxxii So das Original für »lasterhafte [...] Hunde« im oben angeführten Zola-Zitat. Siehe hierzu auch die Brücke, die Philippe Haensler zu den »femelles des animaux« bei Jean-Jacques Rousseau schlägt: Haensler, Philippe P.: An Namen (Platon, Rousseau, Zola, Freud etc.), in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse, Heft 99, online verfügbarer Text unter: https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org

xxxiii »Auf der Unterseite sind diese [Blätter des Huflattichs] filzig behaart, was der Pflanze auch den weniger schmeichelhaften Namen Wanderers Klopapier einbrachte.« Online unter: https://www.hoehenrausch.de/bergblumen/huflattich/

xxxiv »[D]as Hufeisen wiederholt den Umriß der weiblichen Geschlechtsöffnung« und gilt Freud deshalb als Symbol derselben. Vgl. Freud, Vorlesungen, S. 167. Durch die Verbindung von Huf(eisen) und Latt(e) kann man den Huflattich auch als Symbol der genitalen Vereinigung begreifen, was wiederum zu Freuds oben skizziertem sexuellen »Wartestand« passen würde.

xxxv Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst (1926), in: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 111–205, hier S. 116

xxxvi Ob es eine vor- bzw. nicht-objektale Form des Autoerotismus gibt, in der also der eigene Körper nicht das Objekt vertritt, ist umstritten. Ich tendiere hier zu der Annahme, dass der Sexualtrieb von Beginn an relational ist, der eigene Körper und der autoerotische Rückzug zu ihm also (zumindest latent) auf den Anderen verweisen. Eine ähnliche Position vertritt: Leader, Darian: Jouissance – Sexuality, Suffering and Satisfaction, Cambridge, UK 2021, Polity, S. 15–27

xxxvii Chaboudez, Gisèle: L'auto-érotisme de la jouissance phallique, in: Essaim, 2002, 10. Jg., Heft 2, S. 35–48, hier S. 37

xxxviii Einen bemerkenswerten Versuch, psychopathologische Folgewirkungen unterschiedlicher elterlicher Reaktionen auf die kindliche Onanie zu beschreiben, unternimmt: Binswanger, Ralf: Kindliche Masturbation – Ein genetischer Gesichtspunkt, insbesondere bei Anorexia und Bulimia nervosa, in: Psyche - Z Psychoanal, 1996, 50. Jg., Heft 7, S. 644–670

xxxix Vgl. Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Zur Genese der Dummheit, in: dies., Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 2011 (20. Aufl.), S. Fischer, S. 274f.

xl »The aim of Candy Crush is not to teach the users anything, but to capture the totality of their cognitive capacities during a given amount of time and to appropriate their libidinal resources by making the screen into a surrogate masturbatory surface. In Candy Crush, the players never win anything: when they finish one level, it’s the screen that has the orgasm.« Preciado, Paul: An Apartment on Uranus. Chronicles of the Crossing, South Pasadena, CA, 2019, Semiotext(e), S. 54

xli Vgl. zum »Ich-Orgasmus«: Winnicott: Über die Fähigkeit, S. 350f.

xlii Laplanche, Jean: Sexualität und Bindung in der Metapsychologie, in: ders.: Sexual, Gießen 2017, Psychosozial, S. 33–52, hier S. 44

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